URI: 
       # taz.de -- Wenn Eltern psychisch krank sind: Ich sehe was, was du nicht siehst
       
       > Die Mutter von Alina Lanisch (Name geändert) ist manisch-depressiv. Stets
       > versuchte sie, ihre Mutter zu unterstützen, und weiß doch: Sie kann sie
       > nicht retten.
       
   IMG Bild: Alina Lanisch (Name geändert) mit Blumen vorm Gesicht
       
       Ich höre, „diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar“, gerate in
       Panik, rechne nach: Wann habe ich meine Mutter zuletzt gesprochen? Vor zwei
       Wochen? Vor drei? Ist sie wieder weggetrampt? Wieder obdachlos? Oder
       schlimmer: Liegt sie tot auf dem Boden der Wohnung?
       
       Seit vier Wochen hat meine Mutter den Weiterbewilligungsantrag für ihre
       Sozialhilfe ignoriert. Ich weiß nicht, wie sie an Essen kommt, weiß nur,
       ihre Miete ist nicht bezahlt. Sie fliegt raus, wenn ich nichts tue.
       
       Vor zwölf Jahren war sie schon mal obdachlos. Ich war 20 und mitten im
       Abitur, als ich meine Mutter im Winter in meiner WG aufnahm, nachdem sie
       mehrere Nächte im Freien verbracht hatte. Kaum da, mischte sie sich in
       meine Beziehungen ein, unterstellte uns, sie zu beklauen, und hielt mich
       mit ihren Verschwörungstheorien von den Abiturvorbereitungen ab. Mit 17 war
       ich wegen Konzentrationsschwierigkeiten nach wiederholtem Sitzenbleiben
       vom Gymnasium geflogen. Die externen Prüfungen waren meine letzte Chance.
       Schlechten Gewissens setzte ich sie wieder vor die Tür.
       
       Nach zwei Monaten in wechselnden Obdachlosenunterkünften kam sie wegen
       einer nicht bezahlten Geldstrafe ins Gefängnis. Die Vorladung und die
       Zahlungsaufforderung hatten sie nie erreicht. Als die Polizei sie in einem
       Obdachlosenheim auffand, hatte sie ihr gesamtes Geld verliehen und
       ausgegeben.
       
       Meine Mutter leidet an einer bipolaren Störung. Sie hat nie Hilfe
       angenommen. Obwohl selbst Psychologin, spielt sie ihre Krankheit runter.
       Sie habe, meint sie, manchmal leichte Depressionen, von ihren manischen
       Phasen will sie nichts wissen. Wenn ich versuchte, mit ihr darüber zu
       reden, begann sie sofort zu weinen, zu schreien und brach das Gespräch ab.
       
       Ich weiß, ein Drittel aller Betroffenen nimmt sich früher oder später das
       Leben. Meist beim Übergang zwischen zwei Episoden: Dann treffen die
       selbstzerstörerischen Gedanken der Depression auf die überhöhte Energie
       einer Manie.
       
       ## Die Mutter fragt: „Was verschafft mir die Ehre?“
       
       Sofort nach meinem Anruf fahre ich zu ihr, klingele, nein, drücke mit aller
       Macht auf die Klingeln. Sie öffnet nicht. Ein Nachbar lässt mich ins Haus.
       Ihr Briefkasten quillt über, ihre Briefe, fast alle von Ämtern, verteilen
       sich auf dem Boden im Hausflur. Ich klopfe an ihre Tür. Meine Mutter guckt
       durch den Türspalt, macht vorsichtig auf, fragt: „Was verschafft mir die
       Ehre?“ Sie ist abgemagert, trägt zwei Hüte übereinander, in ihrer Wohnung
       türmt sich Müll. „Ich wollte nur nach dem Rechten sehen“, sage ich. Sie
       lacht übertrieben, sagt: „Mir geht’s blendend. Ich räum hier um.“ Und ich:
       „Dann ist ja alles in Ordnung!“ Noch im Türrahmen stehend mache ich kehrt.
       
       Aber ich schaffe es nicht zu gehen, setze mich ins Treppenhaus, starre die
       Wände an. Ich bin 32 Jahre alt, habe eine zweijährige Tochter und keine
       Kraft mehr, meine Mutter daran zu hindern, ihr Leben wegzuwerfen. Durch
       meine ständige Alarmbereitschaft bin ich so gestresst, dass ich immer
       wieder die Nerven verliere. Jetzt, im Hausflur sitzend, bin ich traurig,
       aber zum ersten Mal spüre ich auch Wut. Wut, dass sie mir nie eine Mutter
       war. Wut, dass ich kein ruhiges Leben haben werde, solange sie lebt.
       
       Bis zu vier Millionen Kinder in Deutschland wachsen bei psychisch kranken
       Eltern auf. Ich bin eines. Die Krankheit meiner Mutter brach aus, als ich
       fünf Jahre alt war. Meine Mutter, so erzählt es mein Vater, schrieb damals
       ihre Diplomarbeit, organisierte nebenbei einen Streik an der Universität,
       gründete auf dem Unigelände einen Notkindergarten, nahm mich mit in die
       Seminare und behielt mich auch über Nacht dort. Mein Vater sagt, er wurde
       immer besorgter wegen ihrer abwegigen Ideen, ihrer Gedankensprünge, ihres
       aggressiven Gebarens. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich drei Jahre
       alt war, lebten aber meinetwegen weiter zusammen. Sie stritten ständig.
       
       Kurz vor meinem sechsten Geburtstag fuhr meine Mutter Hals über Kopf nach
       Portugal. Ein Dreivierteljahr blieb sie dort. Danach zog sie in ihr
       Heimatdorf. Mich ließ sie bei meinem Vater. Als ich eines Abends am Telefon
       zu weinen begann, weil mein Vater sagte, dass ich nun auflegen müsse, um
       meine Hausaufgaben zu machen, wurde sie wütend, verlangte nach ihm und
       schrie in den Hörer: „So geht das nicht! Sie kann nicht länger bei dir
       bleiben. Sie braucht mich.“ Am nächsten Tag stand sie mit ihrer roten Ente
       vor meiner Schule, sagte: „Steig ein, wir fahren in Urlaub.“
       
       Aus dem Urlaub wurden zwei Jahre. Meine Mutter hatte mich hinter dem Rücken
       meines Vaters von meiner Schule ab- und an der Dorfschule in ihrer Heimat
       angemeldet: 800 Kilometer von meinem Vater und meinem gewohnten Umfeld in
       der Stadt.
       
       ## Der Vater hält sich zurück
       
       Meine Eltern waren nicht verheiratet, nur meine Mutter hatte das
       Sorgerecht. Mein Vater hatte Angst vor einer Kurzsschlussreaktion bei
       meiner Mutter, falls er gerichtlich gegen sie vorging, und fürchtete,
       während eines Rechtsstreits käme ich nicht gleich zu ihm, sondern zunächst
       in ein Heim. Er vereinbarte mit dem Jugendamt, erst mal abzuwarten, und
       ließ sich von einer Nachbarin im Dorf meiner Mutter über mein Befinden auf
       dem Laufenden halten.
       
       Meine Mutter hatte von ihrem Vater ein Haus überlassen bekommen, in dem wir
       zu zweit lebten. Wir malten und musizierten auf dem Dachboden, lasen und
       bastelten im Wohnzimmer, bauten Hütten im Wald. Das alles weiß ich anhand
       von Fotos. Ich habe das meiste aus dieser Zeit vergessen, verdrängt.
       Zumindest nach außen hin fand ich mich in mein neues Leben ein: In meinen
       Briefen an meine Freundin schwärmte ich von der Schäferhündin der
       Nachbarin, in meinem Zeugnis der zweiten Klasse steht: „Sie ist aufgeweckt
       und hat sich gut integriert.“
       
       Meine Klassenkameraden jedoch lebten im Nachbardorf, die zwei anderen
       Kinder in unserem Ort durften nicht mit mir spielen. Ihre Eltern sagten mir
       ins Gesicht: „Weil deine Mutter nicht richtig tickt.“ Ich zog mich zurück.
       Die Schäferhündin wurde meine Verbündete, meine Oma, die Mutter meines
       Vaters, die mich oft besuchte und in den Ferien zu sich holte, meine engste
       Vertraute.
       
       Menschen, die komisch über meine Mutter redeten, mied ich. Obwohl ich auch
       nicht verstand, warum sie manchmal wie versteinert dasaß oder plötzlich
       euphorisch auf Fremde einredete und mit mir in die Disco ging, war sie für
       mich doch einfach: meine Mama. Als ich mit neun Jahren immer wieder darum
       bat, zurück in die Stadt zu meinem Vater und meinen Freunden ziehen zu
       dürfen, ließ sie mich gehen.
       
       ## Endlich eine Diagnose: manische Depression
       
       Erst mit 22 erfuhr ich, was mit meiner Mutter los ist. Ich studierte im
       Ausland, als sie mich in der Nacht anrief. Sie erzählte, dass sie nach
       einem Streit von Fremden in die Psychiatrie eingewiesen worden sei, und
       flehte mich an, dem Arzt zu sagen, dass er sie gehen lassen müsse, weil ihr
       nichts fehle. Der Arzt aber meinte: „Sie hat eine bipolare Störung,
       allgemein auch als manische Depression bekannt.“ Was er mir damals über die
       extremen Schwankungen ihrer Stimmung, ihres Antriebs und ihrer Aktivität
       erklärte, deckte sich mit meinem Erleben. Endlich hatte ich für die
       exzessartigen und deprimierten Phasen meiner Mutter einen Namen.
       
       Ich recherchierte Behandlungsformen, las, dass eine Therapie nur Erfolg
       hat, wenn die Betroffenen krankheitseinsichtig sind, und erreichte durch
       weitere Telefonate, dass meine Mutter entlassen wurde, weil sie keine
       konkrete Gefahr für sich oder andere darstellte. Die Behandlung blieb
       ohnehin wirkungslos. Wie meine Mutter mir stolz erzählte, spuckte sie alle
       verabreichten Medikamente unbemerkt aus. Jahrelang hoffte ich dennoch, sie
       könne geheilt werden, und übernahm die Mutterrolle für sie.
       
       Auf den Stufen sitzend realisiere ich, dass ich es nicht länger kann.
       Andere sollen die Verantwortung tragen. Noch vor ihrem Haus rufe ich den
       Sozialpsychiatrischen Dienst an. Ein Psychiater tippt ihren Namen in den PC
       und sagt: „Ihre Mutter ist uns seit 2009 bekannt. Damals schalteten die
       Nachbarn uns ein.“ Davon wusste ich nichts. „Und Sie haben Ihre Mutter
       dennoch die ganze Zeit über aufgefangen?“, fragt der Psychiater. „Das ist
       selten. Die meisten betroffenen Kinder ziehen sich zurück.“ Ich breche in
       Tränen aus – aus Erleichterung, dass es jemanden gibt, der mein Problem mit
       meiner Mutter versteht, und aus Wut auf mich, dass ich nicht früher
       versucht habe, Hilfe einzufordern. Es wäre mir wie Verrat vorgekommen.
       
       Psychiater sind für meine Mutter ein rotes Tuch: Die Mutter meiner Mutter
       war über zehn Jahre wegen manischer Depression in der Psychiatrie. Wenn sie
       an ihre Kindheit denke, erzählte mir meine Mutter während einer nächtlichen
       Autofahrt, als ich acht Jahre alt war, sehe sie ihre Mutter in der
       Gummizelle vor sich: zugedröhnt in einer Zwangsjacke. In den seltenen
       Momenten, in denen ihre Mutter zu Hause war, konnte sie sie nicht
       wiedererkennen – sie war aufgedunsen und außerstande, auch nur den Abwasch
       zu machen. Ich war übermüdet und konnte nicht ganz folgen, musste aber
       weinen, weil meine Mama weinte.
       
       Die Mutter meiner Mutter erhängte sich in der Scheune 
       
       Als Kind war das mit der Mutter meiner Mutter nur eine Geschichte für mich:
       Ich habe ihre Mutter nie kennengelernt. Als meine Mutter 16 Jahre alt war,
       fand sie sie in der Scheune – an einem Strick. Meine Tante erzählte mir
       später, dass meine Großmutter mehrfach versucht hatte, ihrem Leben ein Ende
       zu setzen. Meine Mutter gibt der psychiatrischen Behandlung die Schuld an
       dem Suizid: In den 60er Jahren sei noch mit Elektroschocks ohne
       Einwilligung der Patienten gearbeitet worden.
       
       Dass sich die Behandlungsmethoden seitdem verändert haben, will meine
       Mutter nicht hören. Dass ich immer wieder befürchte, sie auch eines Tages
       tot aufzufinden, nimmt sie nicht ernst: „Ich würde dir das nie antun. Ich
       bin doch nicht meine Mutter.“ In ihren depressiven Phasen aber äußerte sie
       wiederholt den Wunsch, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.
       
       Nach dem Anruf beim Sozialpsychiatrischen Dienst gehe ich wie paralysiert
       zur U-Bahn. Was der Psychiater gesagt hat, hallt in mir nach: „Andere
       Kinder wenden sich ab.“ Und ich, denke ich entsetzt, habe an ein Wunder
       geglaubt. Mehr als drei Jahre hatte meine Mutter keine Krankheitsanzeichen:
       Sie war ruhig, reflektiert, drehte sich nicht nur um sich. Dass ihre
       Grundstimmung getrübt war, sah ich als Zeichen von Klarheit. Sie hatte
       schließlich auch wenig Anlass, fröhlich zu sein: Sie war 60, bezog
       Sozialhilfe, lebte in einem tristen Sozialbau, hatte keine Freunde und nur
       noch die Hälfte der Zähne. Auf dem Arbeitsmarkt hatte sie keine Chance, mit
       ihren Geschwistern keinen Kontakt.
       
       Während die Treffen und Telefonate mit ihr in den Jahren zuvor meist
       deprimierend waren und eine einfache Nachfrage nach ihrem Befinden oft
       reichte, mir die Stimmung zu verderben, begannen unsere Begegnungen in
       dieser Zeit sogar Spaß zu machen. Ich erlebte meine Mutter als die
       kompetente Frau, die ich nur aus Erzählungen kannte: Sie kam mit selbst
       gebackenem Kuchen, half beim Anschließen meiner Waschmaschine, brachte mir
       Nähen bei. Obwohl ich wusste, dass ihre Krankheit als unheilbar gilt,
       begann ich nach einem Jahr anzunehmen, sie sei überstanden – für uns beide.
       Während ich mich davor oft fremdbestimmt gefühlt hatte, war ich nun
       überzeugt, mein Leben im Griff zu haben.
       
       Dann wurde ich ungeplant schwanger. Ich wollte nie ein Kind. Ich hatte
       Angst, eines Tages selber psychisch krank zu werden und einem Kind zur Last
       zu fallen wie meine Großmutter meiner Mutter und meine Mutter mir. Die
       bipolare Störung ist zwar keine Erbkrankheit im engeren Sinne, doch
       Familien- und Adoptionsstudien zeigen, dass es bei direkten Verwandten ein
       erhöhten Risiko gibt. Ob die Krankheit ausbricht, liegt nach jetzigem Stand
       der Forschung an Umweltfaktoren.
       
       Als ich begriff, ich bin schwanger, hatte ich nur noch wenige Tage, über
       einen Abbruch nachzudenken. Ich sagte mir, dass die Wahrscheinlichkeit,
       selbst zu erkranken, mit 30 Jahren nicht mehr so hoch sei, die Störung nach
       all meinen traumatischen Erlebnissen längst ausgelöst worden wäre, und
       entschied mich, das Kind zu bekommen.
       
       Nach der Geburt meiner Tochter bekam auch meine Mutter neuen Lebensmut: Sie
       kümmerte sich um ihre Wohnung und ihr Gebiss und war für mich und meine
       Tochter da. Sie kaufte für uns ein, kochte, putzte. Sie war so fürsorglich,
       dass mein Freund und ich ihr unsere Tochter bedenkenlos anvertrauten. „Die
       Kleine ist das Beste, was mir passieren konnte. Durch sie habe ich noch
       einmal eine Aufgabe“, sagte sie.
       
       Als meine Tochter sprechen lernte, las sie ihr vor, als sie Laufen lernte,
       wurde sie nicht müde, sie an den Händen zu führen. Wenn sie kam, waren alle
       anderen abgeschrieben: „Oma!“, rief meine Tochter, bevor sie Papa und Opa
       sagte. Für meine Tochter waren meine Eltern Oma und Opa, ganz so, als
       hätten sie sich nie getrennt. Mit meiner Tochter erlebte ich meine Eltern
       als die Familie, die ich als Kind gern gehabt hätte.
       
       Mein Vater und ich konnten mit meiner Mutter sogar über die Vergangenheit
       sprechen. Sie erinnerte sich nur an wenig, glaubte uns aber, wenn wir von
       ihren manischen Phasen erzählten, und reagierte betroffen. „Ich habe 25
       Jahre meines Lebens verpasst“, sagte sie einmal, „und war für dich keine
       richtige Mutter.“
       
       Verschiedene Studien zeigen, dass in den Industrieländern drei bis vier
       Prozent der Bevölkerung eine bipolare Störung haben. Eine prophylaktische
       Behandlung, etwa mit Lithium, kann die Manien und Depressionen so
       eindämmen, dass Betroffene ihrem Alltag nachgehen können. Ohne Therapie
       sind die einzelnen Episoden ausgeprägter und länger.
       
       Im Dezember kurz vor dem zweiten Geburtstag meiner Tochter nahm ich am
       Telefon eine Stimmungsänderung bei meiner Mutter wahr: Sie klang
       aufgekratzt. Darauf angesprochen, sagte sie: „Mir geht’s endlich wieder
       richtig gut.“ Meine Mutter war in eine Manie gerutscht. Sie kam Stunden
       verspätet, brachte meiner Tochter einen Haufen Müll, trug schrille Kleider,
       sprach hastig und zusammenhangslos.
       
       Die Mutter rutscht wieder in eine Manie 
       
       Sie wieder so wirr zu erleben war unerträglich. Als sie die Bilderbücher
       meiner Tochter anmalte, hielt ich es nicht länger aus. Während ich zuvor
       nie gewagt hatte, ihre Krankheit zu benennen, sagte ich meiner Mutter nun,
       dass sie sich manisch verhalte. Sie schrie: „Du spinnst. Das sind deine
       Unfälle. Du bist als Kind ja ein paar Mal auf den Kopf gefallen.“
       
       Ich verlor die Beherrschung, zog sie aus der Wohnung, sagte, ich wolle sie
       erst wiedersehen, wenn sie bei Sinnen sei. Meine Tochter begann zu weinen:
       „Was ist mit Oma?“ Ich musste mich zusammenreißen, nicht vor ihr in Tränen
       auszubrechen.
       
       In den folgenden Wochen meldete ich mich nicht bei meiner Mutter und
       ignorierte ihre kryptischen SMS. Dann fiel mir ein, dass der
       Weiterbewilligungsantrag für ihre Sozialhilfe fällig war. Ich rief sie an.
       Sie erzählte von einem Pur-Konzert in Hannover, zu dem sie mit neuen
       Bekannten getrampt sei. Nach meinem Befinden fragte sie nicht. Zu dem
       Antrag sagte sie nur: „Mache ich schon“, und fragte dann: „Wann sehe ich
       meine Enkelin?“
       
       Ich erklärte ihr, dass ich nicht wolle, dass meine Tochter sie in ihrer
       Manie erlebe, dass ich aber für sie da wäre, wenn sie Unterstützung
       wünsche. Sie fiel mir ins Wort: „Ich brauch keine Hilfe. Ich bin glücklich.
       Wenn du mir das nicht gönnst, bitte. Leb dein Leben und halt dich aus
       meinem raus.“ Nach kurzer Pause fügte sie scharf hinzu: „Du bist nicht
       meine Mutter. Ich bin deine Mutter und lebe so, wie ich will. Kümmere du
       dich um deine Dinge!“
       
       ## Eine Zwangseinweisung bringt die Tochter nicht übers Herz
       
       Nach dem Telefonat mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst bin ich erst einmal
       erleichtert. Der Psychiater informiert mich über sämtliche Entwicklungen:
       Meine Mutter kam zu zwei Terminen und begann bei ihm, ihren
       Weiterbewilligungsantrag auszufüllen. Plötzlich aber brach sie den Kontakt
       wieder ab: „Sie will alleine zurechtkommen“, erklärt der Psychiater und
       meint: „Der Sozialpsychiatrische Dienst kann nichts weiter für sie tun.“ Er
       legt mir nahe, über eine Zwangseinweisung nachzudenken oder den Fall an das
       Betreuungsgericht zu geben.
       
       Die Zeit drängt: Ihre Miete wurde nun bereits zwei Monaten nicht gezahlt.
       Eine Zwangseinweisung bringe ich nicht übers Herz. Ich recherchiere
       Betreuung und erfahre, dass 1992 in Deutschland anstelle einer Entmündigung
       eine rechtliche Betreuung eingeführt wurde, die von einem Gericht
       angeordnet und im Einjahresrhythmus überprüft wird. Ziel der Reform
       „Betreuung statt Entmündigung“. Die bestellten Betreuer erhalten eine
       Vertretungsvollmacht nach außen, sind aber per Gesetz zur Beachtung des
       Willens der Betreuten verpflichtet.
       
       Ich weiß, dass meine Mutter wegen der Entmündigung ihrer Mutter sehr
       empfindlich ist, stelle mir aber vor, dass eine Berufsbetreuerin ihr mit
       den Formularen helfen und sie eher als ich motivieren könnte, sich
       behandeln zu lassen. Mein Vater unterstützt den Antrag. Er bringt mir alte
       Tagebücher und Aufzeichnungen, auf denen er in den 90er Jahren Vorkommnisse
       mit meiner Mutter notierte, um dem Jugendamt gegenüber Auskunft erteilen zu
       können.
       
       Beim Lesen kommen Erinnerungen hoch. Ich sehe mich als Achtjährige eines
       Morgens aufwachen und meine Mama ist verschwunden. Während meiner Radfahrt
       zur Schule bin ich so in Gedanken, dass ich ausrutschte und mir das
       Schlüsselbein breche. Die Bauern, die mich finden, können niemanden
       erreichen. Ich werde allein in eine Klinik gebracht. Meine Mama taucht erst
       zwei Tage später wieder auf: Sie war mit ihrem neuen Freund verreist.
       
       Auch ein Brief, den meine Mutter mir zum sechsten Geburtstag geschickt hat,
       ist unter den Erinnerungsstücken. Sie schrieb mir von ihren Geldsorgen,
       malte sich aber aus, wie ich zu ihr fliegen könnte, und endete: „Mir ergeht
       es in Portugal sehr gut, zwischendurch auch nicht, dann denke ich nach,
       auch über Fehler von mir – doch die mussten eben sein, sorry!“
       
       So klar wie nie erkenne ich, dass das, was ich seit meinem sechsten
       Lebensjahr mit meiner Mutter erlebte, psychischer Missbrauch war. Am
       liebsten würde ich sie sofort damit konfrontieren. Stattdessen rufe ich
       meinen Vater an und frage aufgebracht, warum er nach meiner Entführung
       nicht mehr unternommen hat. Er beginnt zu weinen, sagt: „Das frage ich mich
       selbst oft und mache mir große Vorwürfe.“ Augenblicklich empfinde ich
       Mitgefühl. Nach dem Gespräch mit ihm denke ich an meine mittlerweile
       verstorbene Oma, die Mutter meines Vaters, die mich in meiner Kindheit
       gerettet hat: Sie war meine Stütze.
       
       Während der Psychiater Kontakt mit dem Sozialamt aufnimmt, schreibe ich dem
       Betreuungsgericht: „Meine Mutter war in den vergangenen 25 Jahren immer auf
       andere angewiesen. Mein Vater hat oft Rechnungen für sie bezahlt, weil sie
       ihr eigenes Geld zum Fenster rausschmiss. Als sie wegen einer unbezahlten
       Geldstrafe im Gefängnis saß, habe ich die Summe aufgetrieben und ihr
       anschließend geholfen, die Wohnung zu finden, in der sie nun lebt. Nun aber
       sehe ich mich außerstande, meine Mutter weiter vor sich selbst zu
       beschützen, und bitte dringend, ihr schnellstmöglich jemanden zur Seite zu
       stellen, der sie in ihren Belangen unterstützt und ihre Verfassung im Blick
       behält.“ Ich beende mein Schreiben mit dem Appell: „Lassen Sie sich nicht
       von der Eloquenz meiner Mutter täuschen. Es gelingt ihr auch in der
       schlimmsten Manie, eine Fassade aufrechtzuerhalten.“
       
       Das Gericht bestellt eine Betreuerin 
       
       Wochen vergehen. Da meine Mutter auf die Briefe des Gerichts nicht
       reagiert, sucht der bestellte Gutachter sie in der Wohnung auf. In seinem
       Bericht steht, er habe sie in einem psychotischen Wahnzustand angetroffen.
       Das Gericht bestellt eine Betreuerin. Meine Mutter legt Widerspruch ein.
       
       Dann erfährt sie, dass ich den Betreuungsantrag gestellt habe. Sie ruft
       mich an, spricht auf die Mailbox: Sie will mich treffen, mit mir reden. Sie
       sagt, dass sie sich um ihre Sozialhilfe gekümmert habe, und möchte, dass
       ich den Antrag zurückziehe.
       
       Seit Wochen denke ich viel über meine Beziehung zu ihr nach, habe
       Schlafstörungen und große Mühe, die Trotzphase meiner Tochter gelassen zu
       nehmen. Früher habe ich bei Stress zwei Schachteln Zigaretten geraucht, nun
       stopfe ich Schokolade in mich hinein. Die Vorstellung einer Begegnung mit
       meiner Mutter löst bei mir Herzrasen aus.
       
       Zum Treffen nehme ich meinen Vater mit. Meine Mutter ist ordentlich
       gekleidet, guter Dinge und freut sich, uns zu sehen. Sie überredet uns, in
       ein Café zu gehen. Als ich das Gespräch sofort auf die Chancen einer
       Betreuung bringe, schneidet sie mir das Wort ab, referiert über freien
       Willen und endet mit den Worten: „Du siehst doch, dass ich zurechtkomme.
       Wenn du deine Verleumdung nicht zurücknimmst, verüble ich dir das für
       immer.“
       
       Ich weiß nicht weiter. Jahrelang habe ich immer wieder überlegt, ob es
       nicht unterlassene Hilfeleistung ist, niemanden über ihren Zustand zu
       informieren. Jetzt befürchte ich, dass eine eingesetzte Betreuungsperson
       keine Chance hätte, etwas für sie zu tun. Weil meine Mutter sie nicht
       lassen würde. Ich weiß plötzlich selbst nicht mehr, ob der Antrag richtig
       war. Muss ich meine Mutter ernst nehmen, wenn sie von ihrem freien Willen
       redet?
       
       ## Die Mutter will keinen Kontakt mehr
       
       Meine Mutter hat das Gespräch damit beendet, dass sie keinen Kontakt mehr
       wünsche. Noch größer als die Enttäuschung ist bei mir die wieder
       aufsteigende Angst, einmal so zu enden wie sie: Noch am selben Abend bitte
       ich meinen Freund, mich bei den leisesten Anzeichen auf eine Manie sofort
       in Behandlung zu bringen, zur Not gegen meinen Willen. Unserer Tochter
       zuliebe.
       
       Am liebsten würde ich meine Mutter nie wiedersehen. Meine Tochter aber
       erkundigt sich täglich nach ihr. Ich antworte jedes Mal: „Du siehst deine
       Oma bald“, und hoffe, dass sie aufhört, nach ihr zu fragen.
       
       Monate später erhalte ich ein Schreiben vom Betreuungsgericht: Das
       Verfahren wurde nach der persönlichen Anhörung meiner Mutter eingestellt.
       Wenige Tage später ruft sie an und sagt, dass sie mich einladen wolle, sie
       habe einen Kuchen gebacken. Als ich nicht reagiere, sagt sie: „Ja, hast du
       denn den Brief vom Gericht nicht bekommen? Da steht schwarz auf weiß, dass
       ich mich selbst um mich kümmern kann. Vielleicht glaubst du es endlich und
       wir können das alles hinter uns lassen: Ich verzeihe dir. Du bist und
       bleibst meine Tochter.“
       
       29 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Lanisch
       
       ## TAGS
       
   DIR bipolare Störung
   DIR Depression
   DIR Psychische Erkrankungen
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR psychische Gesundheit
   DIR Arbeit
   DIR bipolare Störung
   DIR psychische Gesundheit
   DIR Wandern
   DIR Psychotherapie
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR psychische Gesundheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Psychische Gesundheit in Deutschland: Angst vor seelischem Leid
       
       Die Sorge um psychische Gesundheit steigt seit Corona. Bei etwa 20 Prozent
       der Arbeitnehmer:innen wurde schonmal eine Depression diagnostiziert.
       
   DIR Betreuer in der Not II: In der Küche wird der Kaffee kalt
       
       Juliane Friedrich arbeitet als gesetzliche Betreuerin. Ein Job zwischen dem
       bürokratischen Irrsinn unserer Zeit – und Mitmenschlichkeit.
       
   DIR Vom Leben mit einer bipolaren Störung: Plötzlich ist nichts mehr normal
       
       Jens Cencarka-Lisec ist Mitte 40, als er die Diagnose erhält. Nun soll er
       einen Teil von sich bekämpfen. Und lernt, damit umgehen.
       
   DIR Wegen psychischer Erkrankungen: Fehltage im Job steigen massiv an
       
       Arbeitnehmer fallen im Job immer häufiger und auch länger wegen psychischer
       Erkrankungen aus. Das ergeben Auswertungen verschiedener Krankenkassen.
       
   DIR Ex-tazlerin über selbstbestimmtes Sterben: „Ich glaube an meinen Mut“
       
       Sigrid Bellack, Ex-tazlerin und passionierte Wanderin, hat Multiple
       Sklerose. Sie hatte ein erfülltes Leben und will nun ein selbstbestimmtes
       Ende.
       
   DIR Therapeutin über psychisch kranke Eltern: „Sich einmischen ist immer gut“
       
       Psychisch kranke Menschen machen ihre Kinder zu Eltern und beuten sie so
       mitunter emotional aus, sagt Renate Höhfeld.
       
   DIR Psychiatrie in Griechenland: Verrückt ist völlig okay
       
       Die psychiatrische Versorgung ist vielerorts mit der Krise kollabiert. Gut
       so, findet das Observatorium für Menschenrechte in der Psychiatrie.
       
   DIR Zwangsbehandlung psychisch Kranker: Schutz vor sich selbst
       
       Psychisch Kranke, die nicht mehr laufen können, dürfen künftig
       zwangsbehandelt werden. Doch das Urteil der Karlsruher Richter überzeugt
       nicht.