URI: 
       # taz.de -- Regisseur Vontobel über das N-Wort: „Theater ist ständiges Hinterfragen“
       
       > Roger Vontobel hat in Bochum Bernard-Marie Koltès’ „Kampf des Negers und
       > der Hunde“ inszeniert. Ein Gespräch über Political Correctness und
       > Kunstfreiheit.
       
   IMG Bild: „Wir tun viel, um im Alltag zivilisiert miteinander umzugehen – aber drunter liegt noch etwas anderes. Das darf sich auf der Bühne zeigen“, sagt Vontobel
       
       taz: Herr Vontobel, gab es kritische Reaktionen am Bochumer Theater, als
       Sie den Wunsch äußerten, Koltès’ 1981 uraufgeführtes Stück „Kampf des
       Negers und der Hunde“ zu inszenieren? 
       
       Roger Vontobel: Nein, die Reaktionen waren durchweg positiv. Es gab
       natürlich Fragen zu Inhalt und Besetzung. Ich wollte unbedingt Alboury, den
       schwarzen Fremden, mit der Schauspielerin Jana Schulz besetzen. Das ganze
       Haus hielt das für eine schlagende Idee.
       
       Warum wollten Sie das Stück gerade jetzt inszenieren? 
       
       Es fasziniert mich, passt haargenau zur heutigen Zeit: eine kleine Gruppe
       von Menschen, die sich in einer Gated Community befinden und wahnsinnig
       Angst haben, dass von draußen die anderen, die von ihnen ausgebeutet
       werden, hereindrängen. Koltès’ apokalyptische Version dieser Situation ist
       großartig.
       
       Auf der Theaterdiskurs-Plattform [1][Nachtkritik.de] diskutieren Leser, ob
       man den Stücktitel überhaupt ausschreiben darf und ob nicht das ganze Stück
       auf den Müll gehört. Wie waren die Publikumsreaktionen in Bochum? 
       
       Ich habe keine Proteste gegen Stück oder Titel mitbekommen. Über die
       Nachtkritik-Debatte kann ich nicht viel sagen, ich meide dieses Medium.
       
       Warum? 
       
       Ich mag es nicht. Ich bin ein analoger Mensch. Wenn mir jemand seine
       Meinung sagen möchte, dann bitte im Gespräch. Ich glaube an Dialoge. Ich
       gebe nicht viel darauf, welche Debatten digital losgetreten werden, denn
       würden wir in einem realen Raum zusammensitzen, verliefen die Gespräche
       ganz anders. In der anonymen Häme verfasste Kommentare interessieren mich
       nicht.
       
       Haben Sie irgendeinen Grund gesehen, das Stück nicht zu inszenieren? 
       
       Überhaupt keinen. Gerade bereite ich den „Kaufmann von Venedig“ vor und
       beschäftige mich mit Xenophobie heute und zu Zeiten Shakespeares. Wie bei
       Koltès, so gilt auch hier: Theater ist eine Kunstform, keine 1:1-Abbildung
       der Alltagswirklichkeit. Wenn wir im normalen Leben miteinander reden,
       achten wir glücklicherweise darauf, weder bewusst noch aus Unbedachtheit
       diskriminierend zu sprechen. Das ist eine großartige Entwicklung –
       gesellschaftlich gesehen. Aber man darf das Theater nicht mit der realen
       Gesellschaft verwechseln.
       
       Warum brauchen wir diese Kunstfiguren auf der Bühne? 
       
       Als Reflexion unserer selbst. Wir tun viel, um im Alltag zivilisiert
       miteinander umzugehen – aber drunter liegt noch etwas anderes. Das darf
       sich auf der Bühne zeigen. Was sind unsere Rassismen, unsere Ängste? Sind
       wir wirklich so weit entfernt von diesen Figuren? Sie sind ein Spiegel für
       uns, ein Spiegel des Bösen in uns.
       
       Braucht es die Darstellung von historischer Realität auf der Bühne? 
       
       Hundertprozentig. Zu Shakespeares Zeiten ging man über die Brücke, und
       rechts und links waren Köpfe aufgespießt – diese Realität war der Nährboden
       für die Konflikte. Wenn wir anfangen, das alles zu beschönigen, nur weil es
       uns als nicht politisch korrekt erscheint, dann weiß ich nicht mehr, wo ich
       lebe.
       
       Die Frage ist ja: Wohin führt die Zensur der Sprache? Ein Vertreter der
       Aktivistengruppe „Bühnenwatch“, selbst Regisseur, sagte mir, nach seiner
       Meinung gehöre Shakespeares „Othello“ längst ins Museum. 
       
       Nein, mein Gott, was ist denn da los! Ich versteh die Welt nicht mehr!
       Bitte, lest zuerst „Brave New World“ von Aldous Huxley – und dann lasst uns
       noch mal drüber reden. Wir verlieren Gedankengut, unsere
       Reflexionsfähigkeit, wenn wir das alles zensieren. Menschenskinder, wir
       meinen, wir seien schon so weit gekommen – aber die Xenophobie liegt auf
       subkutanen Ebenen. Theater ist ein ständiges Hinterfragen. Aber bitte: ein
       ehrliches Hinterfragen, ohne von vornherein Zensuren anzubringen.
       
       Othello ist bei Shakespeare schwarz – und zwar nicht aus Versehen. Was
       bedeutete das damals, wogegen musste er sich behaupten? Was für eine
       Sprache ist da am Werk? Wie Jago mit Othello redet, wie er verschiedenste
       Wörter benutzt, um den Schwarzen zu beschreiben, in despektierlichster
       Weise – das soll man alles wegnehmen? Dann nehmen wir uns die Grundlage
       einer genauen Sicht auf uns Menschen, beschneiden historische Realität. Das
       Stück können wir dann allerdings wirklich wegschmeißen – und verlieren
       Weltkulturerbe!
       
       Theater ist unabdingbar für eine Demokratie, für eine vermeintlich
       aufgeklärte Gesellschaft. Es ist das Abgleichen mit unseren Vorfahren, mit
       dem Heute. Umso mehr brauche ich den Begriff „Neger“ und die Freiheit, ihn
       auf dem Theater so zu benutzen, dass er möglicherweise verletzend ist. Denn
       er IST natürlich verletzend – diese Realität muss ich abbilden dürfen.
       
       Das „N-Wort“ muss also auf der Bühne ausgesprochen werden dürfen? 
       
       Natürlich! Wenn ich jeden zum Gutmenschen erklären muss, kann ich keine
       Kunst machen. Das wäre der Tod unseres Mediums.
       
       Beim Theatertreffen hat die Leitung der Berliner Festspiele darauf
       bestanden, dass in der Inszenierung „89/90“ von Claudia Bauer das Wort
       „Neger“ durch „Beep“ ersetzt wird, obwohl ein Neonazi es spricht und das
       Gegenüber sofort kontert. Das Stück enthält noch mehr diffamierende
       Begriffe – die wurden aber nicht gestrichen. „Fidschis“ zum Beispiel,
       „Ostfotzen“. Was ist der Maßstab? 
       
       Ich weiß nicht, was zu dieser Zensur geführt hat, aber prinzipiell würde
       ich sagen: Das ist völlig unverständlich. Denn, wie Sie sagen: Wo setze ich
       den Maßstab an? Wer maßt sich an, einen solchen Maßstab anzusetzen? Am
       Schluss ist alles zensiert, denn es gibt ja immer jemanden, der etwas
       verletzend findet. Wenn wir auf der Bühne so respektvoll miteinander
       umgehen müssten wie im richtigen Leben, wäre das fatal. Dann gibt es keine
       Konflikte mehr auf der Bühne, keine Handlung. Ein Neonazi muss so reden,
       sonst ist er ja kein Neonazi.
       
       Die Festspiele würden sicher nicht von Zensur sprechen. Man habe sich, so
       der Intendant Thomas Oberender, im Gespräch mit der Regisseurin auf diese
       „Beep“-Lösung geeinigt. 
       
       Im Gespräch? Ich sage Ihnen: Natürlich ist es Zensur. Dass hier nicht
       diktatorisch ein Dekret erlassen wurde, ist ja klar. Der Vorgang ist aber
       der gleiche, auch wenn er aufgeklärter, humanistischer daherkommt. Es ist
       eine Bühne – also: die Bretter, die die Welt bedeuten! Da bin ich völlig
       uneinsichtig.
       
       Die Argumentation lautet: keine Reproduktion von Rassismen auf der Bühne.
       Menschen, die traumatische Erfahrungen mit der Verwendung dieser Begriffe
       haben, sollen nicht erneut gekränkt werden. 
       
       Dann muss man eine Debatte darüber führen, auf wie viele Verletzungen diese
       Forderung ausgeweitet werden muss. So ein Satz ist im Kontext von
       Theaterkunst vollkommen absurd.
       
       Das Theatertreffen fürchtet sich vermutlich vor schlechter Publicity: Schon
       2013 gab es Proteste von Aktivisten der Gruppe Bühnenwatch, die sich bei
       einer Brecht-Inszenierung am sogenannten Blackfacing stießen. 
       
       Die Berliner Debatten sind schon sehr speziell. Allein das Wort
       Bühnen-Watch! Im Ernst? Was passiert da mit unserer Gesellschaft? Ich kann
       auf der Bühne jemanden umbringen, auf die brutalste Weise, ohne dass es
       wirklich passiert. Aber so, dass der Mensch, der zuschaut, darüber
       reflektiert. Dass er es verabscheuungswürdig findet, dass ein Mensch mit
       einem anderen Menschen so umgeht.
       
       Genauso, wie er es hoffentlich verabscheuungswürdig findet, dass ein Mensch
       auf der Bühne zu einem anderen Menschen „Neger“ sagt. Ja, das macht etwas
       mit den Zuschauern – aber das soll es ja auch. Danach können wir uns
       darüber aufregen, darüber ausgiebig diskutieren, von mir aus auch im Netz.
       Dafür muss es auf der Bühne aber erst mal stattfinden dürfen.
       
       19 Jun 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://nachtkritik.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Behrendt
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Bochum
   DIR N-Wort
   DIR Political Correctness
   DIR Zensur
   DIR Kunstfreiheit
   DIR Mutter
   DIR Anti-Rassismus
   DIR Theater
   DIR Anti-Rassismus
   DIR Schwerpunkt Meta
   DIR Haare
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Critical Whiteness
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Altes und Neues von den Berliner Szenen: Ein Wiederlesen zum Abschied
       
       Ein Urgestein unserer Seiten, die Berliner Szene, erhält einen neuen Namen.
       Einige der Szenen Detlef Kuhlbrodts folgen hier erstmals „richtig“ online.
       
   DIR Blackfacing im Bremer Theater: Mit rassistischer Schminke
       
       Das Theater Bremen sorgt mit seiner Aufführung der Oper „The Rake’s
       Progress“ für einen Blackfacing-Skandal, den der Intendant nicht erkennen
       mag.
       
   DIR Kommentar Schweriner Staatstheater: Theater lebt von Demokratie
       
       Intendant Lars Tietje hat seinen Mitarbeiter*innen einen Maulkorb verhängt.
       Er vergisst: Sein Haus war zu DDR-Zeiten ein wichtiger Ort demokratischer
       Opposition.
       
   DIR Serie Über Rassismus reden: Fühlen Sie sich angesprochen, bitte!
       
       Die Gesellschaft ist von Rassismus durchzogen. Deshalb denken, sprechen,
       fühlen wir rassistisch. Wo ist der Weg aus dem Teufelskreis?
       
   DIR Karikatur auf Facebook: Falsch verstanden
       
       Weil sie eine Zeichnung teilten, blockierte Facebook einige Nutzer. Dass
       die Beiträge anti-rassistisch waren, merkte Facebook erst später.
       
   DIR Über Rassismus reden: Good Hair, Bad Hair
       
       Sie fassen einem ungefragt in die Haare, sie fragen, ob die echt sind und
       ob man sie auch wäscht. Die Botschaft ist klar: Du gehörst nicht hierher.
       
   DIR „Nafri“ in der politischen Debatte: Kartoffeln wollen Antworten
       
       Alexander Dobrindt ist Verkehrsminister und möchte nicht auf problematische
       Begriffe wie „Nafri“ verzichten. So normalisiert sich Rassismus.
       
   DIR Rassismusdebatte in den Sophiensaelen: Unsagbares (im) Theater?
       
       Die Verwendung des „N-Wortes“ durch ein antirassistisches Künstlerkollektiv
       führte zur Absetzung eines Stücks. Ein legitimer Platzverweis?