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       # taz.de -- Indiepop Konzeptalbum „Planetarium“: Vom Ferienlager bis zum Saturn
       
       > Das Gemeinschaftswerk der Künstler Sufjan Stevens, Bryce Dessner, Nico
       > Muhly und James McAlister zieht alle Register des E-Musik-Indie-Pop.
       
   IMG Bild: Nur wenige der 17 nach Planeten, Sternen oder Weltraumphänomenen benannten Tracks sind Songs im herkömmlichen Sinn
       
       An diesem Projekt ist eigentlich alles – big. Drei schrecklich talentierte
       US-amerikanische Musiker komponieren, texten und performen zusammen ein
       Konzeptalbum, das von nichts Geringerem handelt als dem Weltraum. Dazu
       wirft Indie-Pop-Held Sufjan Stevens zwischen griechischer Götterwelt und
       autobiografischen Szenen irrlichternde Texte und seine im Falsett strahlend
       androgyne Stimme in den Hut.
       
       The-National-Gitarrist Bryce Dessner, der an der Grenze von Pop und
       Klassik für Filmregisseur Alejandro González Iñárritu und
       Performancekünstler Ragnar Kjartansson komponiert hat, steuert ausgefeilte
       Gitarrenarrangements und Soundscapes bei. Und der noch stärker klassisch
       orientierte Komponist Nico Muhly, der aber auch Alben von Antony and the
       Johnsons, Usher und Joanna Newsom orchestriert hat, verdichtet all das
       ins Sinfonische.
       
       Muhly war es auch, der 2011 einen Kompositionsauftrag der Muziekgebouw
       Eindhoven erhielt und daraus zusammen mit den alten Freunden Stevens und
       Dessner sowie dem Drummer James McAlister „Planetarium“ entwickelte. Das
       Werk tourte durch einige europäische Konzerthäuser, bevor es Jahre später
       im Studio zu dem Album ausgearbeitet wurde, das nun beim britischen Label
       4AD erschienen ist.
       
       Man hört „Planetarium“ seine Herkunft aus den ambitionierten Zonen der
       E-Musik deutlich an. Nur wenige der 17 nach Planeten, Sternen oder
       Weltraumphänomenen wie schwarzes Loch oder Kuipergürtel benannten Tracks
       sind Songs im herkömmlichen Sinn, fast immer zerreißen sinfonische Einfälle
       die übliche Struktur aus Strophe und Refrain. Ganz verschwunden ist der
       Anschluss an den Mainstream dennoch nicht: Die Auftaktlieder – das schlicht
       klavierbegleitete „Neptune“ und „Jupiter“, das einen schleppenden „We will
       rock you“-Beat umspielt – stehen Sufjan Stevens’ eigenem
       melancholisch-melodischen Songwriting vielleicht am nächsten. „Mercury“ ist
       eine luftige Hymne, und für „Saturn“ muss Daft Punk Pate gestanden haben.
       Auch „Venus“ puckert und säuselt noch am Rande der Tanzbarkeit, während
       Stevens sich an eine „Goddess“ im methodistischen Ferienlager erinnert –
       bis schwerblütige Blechbläser dazwischengrätschen.
       
       Dann allerdings führt die Sternenreise durch reichlich unwegsame Materie,
       in der so ziemlich alle Register E-orchestralen Prog-Rock-Posings gezogen
       werden. Stevens’ Stimme muss von der Vervielfältigung zum Knabenchor bis
       zum einsamen Old-School-Roboter mit Echoeffekt durch so ziemlich alles
       durch, was die Rechner hergeben. In „Mars“ protzt das Quartett mit
       peitschenden Detonationen, Dronenloopings und Stahlbadgeschmetter: große
       Kriegsoper. Sphärische, gegeneinander verschobene Cluster wechseln mit fein
       gefrickelten Nadelbrettern; neben jedem schüchternen Gitarrengezupfe wird
       eine dröhnende Soundwand errichtet. Nach dem elegischen 15-Minuten-Track
       „Earth“ kann Haydns „Schöpfung“ einpacken.
       
       ## Seltsam kalt
       
       Das ist durchaus interessant anzuhören, und dass man sich in keiner der
       aufgerufenen, bei aller beschworenen Weltferne doch durch und durch
       weltlichen Stimmungen ausruhen kann, hat etwas für sich. Avantgarde ist
       schließlich nicht zum Kuscheln da. Dennoch wird man den Eindruck nicht los,
       dass sich hier drei (oder vier) Musiker in einem Überbietungswettbewerb zu
       Höchstleistungen angespornt und ausgebremst haben: „Planetarium“ ist trotz
       des eindrucksvollen Aufgebots an Talent und Technik ein seltsam kaltes
       Album.
       
       Dieser Eindruck rührt aber auch daher, dass Sufjan Stevens 2015 – also
       zwischen den beiden Produktionsphasen von „Planetarium“ – ein Wurf gelang,
       neben dem die Ode ans Weltall fast zwergenhaft klingt: Sein Soloalbum
       „Carrie & Lowell“ handelte von Stevens’ Trauer nach dem Tod seiner Mutter,
       zu der er von klein auf ein schwieriges Verhältnis hatte: Sie war bipolar,
       drogenabhängig, verließ ihre Söhne, als sie noch Kinder waren.
       Minimalistisch einfach, mit brutaler Offenheit und allergrößter
       Zärtlichkeit besingt Stevens diese innig-unmögliche Liebe; und in jedem
       Vers, jeder Melodie schwingt nicht nur unstillbare Sehnsucht, sondern auch
       versöhnliches Einverständnis mit dem Unglück als Teil des irdischen
       Lebenswunders: „We’re all gonna die.“
       
       Die sparsamen sphärischen Töne, die nach dieser zärtlichen Refrainzeile
       erklangen, stoßen die Wahrnehmungspforten zum Weltall weiter auf als das
       gesamte „Planetarium“.
       
       20 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Behrendt
       
       ## TAGS
       
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