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       # taz.de -- Vor 50 Jahren begann der Biafra-Krieg: Endlich über den Krieg sprechen
       
       > Am 6. Juli 1967 begann in Nigeria der Biafra-Krieg. Ein halbes
       > Jahrhundert später sind die Verbrechen und ihre Folgen noch immer nicht
       > aufgearbeitet.
       
   IMG Bild: Ein Veteran des Biafra-Kriegs mit der Separatistenflagge in der Hand ehrt seine gefallenen Mitkämpfer
       
       Abuja taz | Ein paar junge Journalisten stehen vor der großen gläsernen
       Eingangstür des Yar’Adua Centre, das mitten in der nigerianischen
       Hauptstadt Abuja steht. Stundenlang haben sie Vorträge gehört, in denen für
       ein vereintes Nigeria geworben wurde. Ihr Heimatland, in dem aktuell mehr
       als 185 Millionen Menschen leben und über das immer wieder gemunkelt wurde,
       es könne auseinanderbrechen, sei stärker als gemeinsamer Staat.
       Freundschaften würden über ethnische Grenzen hinweg gepflegt und Nigeria
       müsse schlichtweg „wie eine Liebesaffäre“ behandelt werden.
       
       So hat es Altpräsident Olusegun Obasanjo beschrieben. Obasanjo hat damit
       auf charmante Art das Publikum zum Schmunzeln gebracht. Es ist ein Satz,
       der von dieser Veranstaltung mit nach Hause genommen wird. Zum ersten Mal
       seit Jahrzehnten wird so intensiv über Nigeria als zerbrechliches Ganzes
       gesprochen.
       
       Als „Liebesaffäre, die massiert werden will“, betrachtet das Land vor den
       Türen des Konferenzzentrums aber niemand. „Was funktioniert hier denn noch?
       Der Naira, die nigerianische Währung, ist nichts mehr wert, unsere
       Ausbildung ist es nicht. Es gibt keine Jobs und wenn doch, dann werden
       diejenigen mit den richtigen Kontakten bevorzugt“, sagt einer der jungen
       Männer und macht eine Handbewegung, als ob er eine lästige Fliege
       verscheuchen wollte.
       
       Die übrigen schimpfen mit. Irgendwann rutscht einem noch ein weiterer Satz
       heraus: „Möglichkeiten hängen auch davon ab, zu welcher der mehr als 250
       Volksgruppen man gehört.“
       
       Dass die Diskussionen um Einheit, Ethnizität, aber auch den Zugang zur
       Macht so angefeuert werden, liegt nicht zuletzt an der Person von Nnamdi
       Kanu, Anführer der Bewegung Indigenous People of Biafra (IPOB). Er saß bis
       Ende April unter anderem wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen
       Organisation im Gefängnis. Seine Gruppierung ist eine von mehreren, die die
       Unabhängigkeit des Südostens, wo die Igbos in der Mehrheit sind, fordern.
       Ihre Wortführer präsentieren sich als Verlierer der nigerianischen
       Föderation.
       
       Sie kritisieren, vom Ölreichtum nicht zu profitieren und an den politischen
       Rand gedrängt zu werden. In die Hände gespielt hat ihnen nun eine Äußerung
       des Arewa Youth Consultative Forum, eines Zusammenschlusses verschiedener
       Gruppen aus dem Norden. Nach dessen Aufforderung, dass alle Igbos den
       Norden bis zum 1. Oktober – dem nigerianischen Unabhängigkeitstag –
       verlassen sollen, versuchte Gouverneur Nasir El-Rufai in Kaduna zwar die
       Wogen zu glätten. Gelungen ist ihm das nicht.
       
       ## Fehlende Aussöhnung
       
       Neu entfacht sind die Gespräche aber schlichtweg auch, weil sich der Beginn
       des Biafra-Krieges am 6. Juli zum 50. Mal jährt. Von diesem Datum an bis
       zum 15. Januar 1970 tobte im Südosten Nigerias ein Bürgerkrieg mit
       internationaler Beteiligung, der bis zu zweieinhalb Millionen Todesopfer
       forderte und über den jahrzehntelang nicht offiziell gesprochen wurde.
       
       Biafra, wie sich die unabhängig gewordene Region nannte, war zwar ein
       Begriff. Offiziell wurde aber lieber geschwiegen, was auch der Slogan nach
       Kriegsende vorgab: No victor, no vanquished – kein Sieger, keine Besiegten,
       hieß es. Es kam nur zu wenigen Verhaftungen und durchaus Bemühungen, im
       zerstörten Südosten Schulen aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen.
       
       Als Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu, der die Unabhängigkeit 1967 ausgerufen
       hatte, vor sechs Jahren starb, erhielt er eine Beerdigung mit militärischen
       Ehren. Der damalige Präsident Goodluck Jonathan nannte Ojukwu jemanden, der
       „eine große Liebe zu seinen Leuten“ gehabt habe.
       
       Es sieht nach einer versöhnlichen Geste aus. Für Philosophie-Professor
       Timothy Uzodinma Nwala ist allerdings genau das nicht gelungen: „Weder
       wurden die Ursachen, die zu dem Krieg führten, erforscht, noch hat es eine
       Aussöhnung gegeben.“ Nwala, der selbst aus dem Südosten stammt, erzählt,
       wie er kurz vor Kriegsende durch mysteriöse Umstände nigerianischen
       Soldaten und somit dem Tod entkam, und betont, dass es auch nach dem 15.
       Januar 1970 zu Massentötungen gekommen sei. Zielscheibe seien die Igbos
       gewesen, die später „absichtlich von der Regierung ausgeschlossen“ wurden.
       
       ## Aufgeblähter Staatsapparat
       
       Nigerias Staatsapparat gilt auch deshalb als so aufgebläht, weil im
       36-köpfigen Kabinett jeder Bundesstaat mit einem Minister vertreten sein
       muss. Außenminister Geoffrey Onyeama, der aus Enugu, der ersten Hauptstadt
       Biafras, stammt, sagte vergangenes Jahr, die sogenannten Biafra-Anführer
       hätten nicht das Recht, für alle Igbos zu sprechen, da ihnen niemand ein
       politisches Mandat gegeben habe.
       
       In Nigeria gibt es keinen Tag, an dem landesweit der Opfer von Biafra sowie
       der vorhergegangenen schweren ethnischen Ausschreitungen gedacht wird. Die
       Separatistenbewegungen hatten in diesem Jahr den 30. Mai – den
       Unabhängigkeitstag vor 50 Jahren – dazu ernannt und im Südosten zum
       Generalstreik aufgerufen. Der wirkte jedoch wie eine Trotzreaktion und
       nicht als Versuch, die Vergangenheit aufzuarbeiten. In den übrigen
       Landesteilen des Riesenstaates wurde das Vorhaben gar nicht erst
       wahrgenommen.
       
       Biafra taucht bis heute nicht einmal im Schulunterricht auf. Mit ihrem
       Roman über den Krieg, „Die Hälfte der Sonne“, ist Schriftstellerin
       Chimamanda Ngozi Adichie weltweit bekannt geworden. Auch die persönlichen
       Aufzeichnungen von Chinua Achebe unter dem Titel „There Was a Country“
       haben in Nigeria nach der Veröffentlichung im Jahr 2012 zu Diskussionen
       geführt. Doch wenn im Südosten die Generation, die viele Jahre nach 1970
       geboren wurde, über Biafra spricht, bezieht sie sich auf Erinnerungen ihrer
       Großeltern und Eltern. Einige der Väter wurden in den letzten Kriegstagen
       noch zu Kindersoldaten.
       
       ## Fehlende Aufarbeitung
       
       Diesen Umgang mit der Vergangenheit kritisiert Innocent Chukwuma,
       Westafrika-Direktor der Ford-Stiftung, die gerade die Folgen des
       Biafra-Krieges und des Terrors der Miliz Boko Haram im Nordosten
       gegenübergestellt hat. „Einige Jugendliche sehen bis heute die glamouröse
       Seite des Krieges, nicht jedoch das Leiden“, sagt Chukwuma. Problematisch
       sei außerdem, dass gerade junge Menschen ihre aktuellen Lebensumstände
       wieder mit dem Krieg verknüpften. „Dabei haben sie selbst keine direkte
       Verbindung zu dieser Zeit.“
       
       Statt auf die Geschichte zu schimpfen, sollte man sie aufarbeiten, fordert
       auch Ndidi Nwuneli, die seit 15 Jahren mit ihrer Organisation LEAP junge
       Führungspersönlichkeiten fördern will. „Wir müssen unsere Leute
       unterrichten. Das heißt: Wir müssen unser Curriculum ändern und die
       Wahrheit über Biafra aufnehmen.“ Das könnte noch etwas anderes bewirken.
       Biafra sei bisher meist als ein Kampf der Igbos betrachtet worden. Nwunelis
       Meinung nach ist es jedoch eher einer um die eigene Geschichte und das
       Wissen um die eigenen Wurzeln.
       
       Im Zentrum Abujas steht in unmittelbarer Nähe des schicken und teuren
       Hilton-Hotels der Unity Fountain, der Brunnen der Einheit. Es ist einer der
       wenigen Orte, der alle Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfolge nennt,
       ohne einen einzelnen hervorzuheben. Ob das kleine, schmucklose Bauwerk, von
       dem schon die Farbe abblättert, je mit Wasser gefüllt war, ist fraglich.
       Trotzdem braucht es für Innocent Chukwuma genau so etwas für Nigeria.
       
       „Wir sollten ein nationales Denkmal bauen“, fordert er, um so an Biafra zu
       erinnern. Der beste Standort sei Abuja. Als Lagos als Hauptstadt ausgedient
       hatte, entstand Abuja aus politischen und strategischen Gründen in der
       Mitte des Landes. „Genau hier sollte sich jeder zu Hause fühlen“, hofft
       Chukwuma.
       
       6 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Gänsler
       
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