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       # taz.de -- Die Wahrheit: Gottes leiser Atem
       
       > Er ist nicht totzukriegen und rappelt sich munter durch die Welt der
       > komischen Poesie: Neues vom Schüttelreim. Eine Pulsabnahme.
       
   IMG Bild: Nach F.W. Bernstein reimt sich „Mittagsschlaf“ auf „Schlittagsmaf“
       
       Um den Philosophen Hermann Graf Keyserling zu ärgern, eröffnete der
       Journalist Emil Preetorius einst ein Spottgedicht mit den Worten: „Als
       Gottes Atem leiser ging, / Schuf er den Grafen Keyserling …“ Es geht
       allerdings auch das Gerücht um, dass dieser Vers von dem Dichter Friedrich
       Gundolf stamme und Keyserling darauf erwidert habe: „Und als sein Atem noch
       geringer, / Schuf er den Friedrich Gundelfinger.“
       
       Reimtechnisch reicht diese Replik leider bei Weitem nicht an die Vorlage
       heran. Neue Pionierleistungen auf dem Gebiet des Schüttelreims haben im 20.
       Jahrhundert erst die Gründer der Neuen Frankfurter Schule erbracht. „‚Ich
       will Gerlinde Stanken frei’n!‘ / sprach wütend Graf von Frankenstein. /
       ‚Darum brauch’ ich den Krankenschein, / sonst reiß’ ich alle Schrankenk
       ein!‘“, dichtete Robert Gernhardt und vermerkte dazu in einer Fußnote, dass
       „Schrankenk“ ein volkstümlicher Ausdruck für Schranken sei.
       
       F. W. Bernstein trieb es noch bunter und stellte der Öffentlichkeit mehrere
       Fälle von „lyrischer Schüttellähmung“ vor: „Wenn der Knecht von
       Breickensschlech / draufhaut auf das Schreickensblech, / wird die Freifrau
       Breckenschleich / kreideweiß und schreckensbleich.“ Oder: „Mit der ersten
       Gartelschnülle / steigt Dir schon die Schnürtelgalle / schlägst den
       schärfsten Schnartel gülle / nur mit einer Gürtelschnalle.“
       Praktischerweise hat Bernstein die Kritik an solchem Nonsens selbst
       vorweggenommen und zurückgewiesen: „Gibt keinen Sinn, aber reimt sich. Und
       darauf kommt’s doch beim Schütteln an.“
       
       ## Reanimation des Reims
       
       Seither ist auf diesem Gebiet nicht mehr viel geschehen. Kürzlich jedoch
       hat der sprachverliebte Publizist Kurt Scheel versucht, den guten alten
       Schüttelreim zu reanimieren: „Zwischen ‚Lordose‘ und ‚Lord‘ / Fehlt ein
       sehr wichtiges Wort: / Denn stünde im Duden ‚lorff‘, / Wär’s
       schüttelgereimt ‚Ludendorff‘!“ Dagegen wäre zwar einzuwenden, dass das Wort
       „lorff“, wenn es existierte, im Duden nicht zwischen „Lordose“ und „Lord“
       stünde, sondern weit dahinter, nämlich zwischen „Lorettohöhe“ und
       „Lorgnette“, aber man sollte hier nicht kleinlich sein, sondern dankbar für
       die Anregung. Und im gleichen Geiste weiterdichten: „Als Gottes Atem Binden
       hurg, / Schuf er den Marschall Hindenburg, / auf dass er bei den Burgen
       hint’ / den welschen Demi(h)urgen bind’.“
       
       Dreisilbige Nachnamen deutscher und österreicherischer Militaristen
       scheinen sich überhaupt sehr gut für diese dichterische Verarbeitungsform
       zu eignen. Dem Generalstabschef Conrad von Hötzendorf (1852–1925) hatte
       schon Karl Kraus einen wohlklingenden Namen bescheinigt („wie Trateratata
       klingt das“), und was lässt sich nicht alles daraus machen: „Der
       Serbenfresser Hötzendorf / befehligte ein Dorfenhötz, / mit dem er hinter
       Horfendötz / zusammenschoß ein Dötzenhorf.“
       
       Zugegeben, das wirkt etwas unbeholfen. Zündenderes gibt vielleicht der
       Generalfeldmarschall Albert Kesselring her: „Als Albert seinen Ringel keß,
       / schloß sich um ihn der Kesselring“ – nein, das führt zu nichts. Doch wie
       sieht es mit dem Infanteriegeneral Günther Blumentritt aus? „Der alte Harry
       Truman litt / am ärgsten unter Blumentritt, / der auch den stolzen Briten
       luhm“ – starker Anfang, aber wie weiter? Hilft ein Sprung ins 21.
       Jahrhundert?
       
       ## Schüttelproben der Weltentrückung
       
       „Karl-Theodor zu Guttenberg / Erklomm den hohen Buttengerg / Und stürzte in
       die Gergenbutt: / Dort kann er sich verbergen gutt.“ Nun ja – darauf wäre
       zur Not auch ein mittelhochprächtig begabter Kabarettist gekommen. Und die
       neutralen Hauptwörter sind bereits allesamt einer Schüttelreimprüfung
       unterzogen worden, vom Schweinestall, auf den der „Steine Schwall“
       prasselt, bis zu Peters Rühmkorfs possierlichen „Rattenscheichen“ in ihren
       „Schattenreichen“. Neuland ist wahrscheinlich nur noch dort zu erobern, wo
       die Schüttelproben nicht mehr den geringsten Sinn ergeben, auf jenem
       weltentrückten Terrain, in das einst F. W. Bernstein vorgestoßen ist, als
       er „Schlesselkacht“ auf „Kesselschlacht“ und „Schlittagsmaf“ auf
       „Mittagsschlaf“ gereimt hat
       
       Wohlan: „Wichtig ist die Steichenwellung / diesseits einer Weichenstellung,
       / damit auch das Maltitusking / und das weiche Tultimasking / unterhalb der
       Wellungssteichen / einem Multitasking weichen …“ Nein, das ist zu
       überdreht. Ist der Schüttelreim also doch tot? Oder stinkt er nur ein
       bisschen? Oder steckt noch Leben in ihm?
       
       Man sollte ihn jedenfalls garsam gesprauchen; sonst natzt er sich ub.
       
       7 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gerhard Henschel
       
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