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       # taz.de -- Unterbringung von Geflüchteten in Berlin: „Es gibt ein Zweiklassensystem“
       
       > Zwei Jahre nach dem Flüchtlingssommer läuft weiterhin viel schief, sagt
       > Diana Henniges von „Moabit hilft“. Zudem halte sich Rot-Rot-Grün sich
       > nicht an Wahlversprechen.
       
   IMG Bild: Auf den Flüchtlingssommer folgte ein chaotischer Herbst: Asylsuchende am Lageso im Oktober 2015
       
       taz: Frau Henniges, vor fast zwei Jahren begann die Flüchtlingskrise und
       „Moabit hilft“ wurde bundesweit bekannt als Helfer in der Not für tausende
       Flüchtlinge, die vor dem Lageso gestrandet waren. Sind Sie inzwischen
       arbeitslos geworden? 
       
       Diana Henniges: Nein, im Gegenteil. Die ganze Szene der Flüchtlingshelfer
       hat sich professionalisiert, in vielen Organisationen, nicht nur unserer,
       arbeiten jetzt Leute auf hauptamtlicher Ebene. Wir haben derzeit
       viereinhalb bezahlte Stellen und acht Bufdis.
       
       Was machen die alle? 
       
       Vieles, das von außen gar nicht sichtbar sind. Wir bereiten Flüchtlinge auf
       ihre Asylanhörung vor, übersetzen für sie, machen ihre Korrespondenz mit
       Jobcenter, Ausländerbehörde und anderen Ämtern, wir besorgen Duldungen,
       schützen vor der Abschiebung, indem wir Perspektiven bieten, etwa helfen
       eine Ausbildung zu finden oder einen Sprachkurs. Und wir machen immer noch
       ganz viel Monitoring.
       
       Das heißt? 
       
       Wir gehen in die Unterkünfte und dokumentieren, wie die Zustände dort sind.
       Dann versuchen wir mit den Betreibern und Helferorganisationen vor Ort die
       Dinge zu verbessern. Wenn das nicht funkioniert, wenden wir uns ans LAF
       (Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, Anm.d.Red.), an sein
       Qualitätsmangement. Das arbeitet allerdings sehr holprig, da die viel zu
       wenig Personal haben. Wenn das auch nicht funktioniert, wenden wir uns an
       das Büro von Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Das ganze gestaltet sich
       aber sehr schwierig.
       
       Sie meinen, die Qualität der Unterkünfte zu verbessern? 
       
       Ja. Das und die fehlende Informationspolitik gegenüber den Flüchtlingen. Es
       geht immer um die Pflichten der Flüchtlinge, nie um ihre Rechte. Dann
       bekommen sie Unterlagen, die sie nicht verstehen. Es gibt keine einzige
       Behörde, die so kommuniziert, dass es verständlich ist für einen
       Geflüchteten. Das ist Bürokratendeutsch mit katastrophalen Übersetzungen!
       Und dann bekomme teilweise Iraner eine arabische Übersetzung, Araber was
       auf Albanisch, alles sehr chaotisch. Ich sehe da zwar schon Verbesserungen,
       aber es sind noch sehr viele Dinge im Argen.
       
       Damals wurde kritisiert, dass die Freiwilligen die Arbeit machen, die
       eigentlich Sache von Behörden ist. Es klingt, als sei es heute nicht
       anders. 
       
       Ja, leider es gibt immer noch Staatsversagen. Auch akut versagt die
       Senatsverwaltung heftigst. Viele Unterbringungsleistungen sind ungenügend.
       Und man kann sich nun nicht mehr damit rausreden, dass es nicht genügend
       Unterkünfte gibt. Man muss die Versorgung in den Heimen natürlich auf
       Menschenwürde aufbauen. Wenn Betreiber wie ASB, Caritas, AWO sich dazu
       bekennen, dass sie Leistungen für Geflüchtete aus humanitären Gründen
       erbringen wollen, dann muss man sich daran halten.
       
       Was sind denn die größten Probleme in den Unterkünften? 
       
       Ein ganz, ganz großes ist Wanzenbefall, den haben wir in vielen
       Unterkünften. Und es ist sehr teuer, dagegen professionell vorzugehen –
       also sparen sich das die Betreiber. Man braucht Kältekammern, muss
       Matratzen austauschen, regelmäßige Hygienekontrollen machen, den ganzen Tag
       ausreichend Duschen mit heißem Wasser vorhalten. Man weigert sich aber nach
       wie vor ergänzende Duschcontainer aufzustellen, weil das in der Anschaffung
       teuer ist. Die Betreiber sagen dann, ach, wir schließen eh Ende des Jahres
       oder Mitte nächsten Jahres. Die Endlichkeit der Unterbringung führt dazu,
       dass die Qualität immer weiter herab sinkt. Es fehlt mancherorts an
       abschließbaren Türen – seit zwei Jahren! Menschen, die eine Chemotherapie
       bekommen, sind in Notunterkünften, wo sie sich nicht selbst versorgen
       können und mit sechs Leuten in einem Zimmer wohnen müssen. Geflüchtete mit
       schweren Traumatisierungen ebenfalls!
       
       Es gab zuletzt viele Proteste wegen des Essens. Sehen Sie das auch als
       großes Problem? 
       
       Ja. Ich denke, nach zwei, teilweise drei Jahren will keiner mehr aus Folien
       essen. Das Essen ist größtenteils wirklich schlecht. Viele Caterer bemühen
       sich zwar redlich, eine bessere Verpflegung zu schaffen. Aber es ist
       schwierig für 800 Personen gut zu kochen. Und die Qualität der Lebensmittel
       ist oft schlecht, weil die billigsten Produkte genommen werden – weil die
       Tagessätze niedrig sind und viele Betreiber zudem eine maximale
       Gewinnspanne rausholen wollen. Man spart, wo es geht, beim Essen, bei den
       Matratzen, den Mitarbeitern. Uns fehlen immer noch Kinderbetreuer in ganz
       vielen Unterkünften.
       
       Das Lageso heißt nun LAF. Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit des Amtes
       heute? 
       
       Nach wie vor arbeiten dort Menschen, die sich extrem Mühe geben, sich ein
       Bein ausreißen für Geflüchtete. Und dann gibt es die, die Dienst nach
       Vorschrift machen, für absolute Katastrophen sorgen und kein Interesse
       haben, mit uns zusammen arbeiten. Auch die neue Präsidentin des LAF,
       Claudia Langeheine, ist für uns ein Phantom geblieben, wir haben sie nur
       einmal gesehen, seit sie vorigen August ins Amt kam. Seitens des LAF
       scheint kein großes Interesse an Zusammenarbeit zu bestehen. Das sagen auch
       andere Initiativen. Wir würden daher gerne verstärkt mit der
       Senatsverwaltung für Soziales zusammenarbeiten, die ist ja weisungsbefugt
       gegenüber dem LAF.
       
       Wie finden Sie die neue Sozialsenatorin Elke Breitenbach? 
       
       Ich muss leider sagen, nach über einem halben Jahr Rot-Rot-Grün und zwei
       Gesprächen, die wir bislang mit ihrem Büro hatten, sind da sehr viele Worte
       und Beteuerungen, aber die eigentlichen Ergebnisse enttäuschen uns sehr.
       
       Was fordern Sie denn von ihr? 
       
       Eine unserer Forderungen ist derzeit, dass Menschen aus sicheren
       Herkunftsländern, wenn sie länger hier bleiben in Gemeinschaftsunterkünften
       untergebracht werden, nicht in Notunterkünften mit Sachleistungsprinzip wie
       es die bundesweite Gesetzeslage vorsieht. Frau Breitenbach hat sich dazu
       mehrfach uns gegenüber schriftlich bekannt, aber dies leider nicht in die
       Praxis umgesetzt.
       
       Menschen aus sicheren Herkunftsländern werden gezielt in Notunterkünften
       gehalten? 
       
       Ja. Sie werden separiert, es gibt eine
       Zwei-Klassen-Flüchtlingsunterbringung. Eine weitere Forderung von uns ist,
       dass die neue „Flüchtlingsschule“, nur mit Willkommensklassen, in der
       Schöneberger Teske-Schule nicht realisiert wird. Für die Kinder dort ist es
       fast unmöglich sich ins Regelschulsystem zu integrieren. Das ist auch ein
       Armutszeugnis für die Linke, die vor der Wahl ganz klar gesagt hat, dass es
       mit ihr so etwas nicht geben wird. Hier haben wir schon die erste Wahllüge.
       Dann fordern wir auch einen Heim-TÜV.
       
       Der steht auch im Koalitionsvertrag. 
       
       Ja, genau. Aber man hat uns gesagt: Ja, wenn erstmal die Verträge mit
       Betreibern erneuert sind, das könnte ein bis zwei Jahre dauern, dann könnte
       man anfangen auf dieser Basis einen Heim-TÜV einzuführen. Das heißt im
       Umkehrschluss: Die Betreiber dürfen nahezu alles machen, was sie wollen,
       solange sie keinen neuen Verträge haben.
       
       Aber für die neuen Unterkünften, die so genannten MUFs und Tempohomes, gibt
       es doch Verträge. 
       
       Ja, genau. Aber das hilft natürlich nicht den Leuten, die jetzt in einer
       Notunterkunft leben. Da gibt es viele Punkte, über die man reden muss, da
       muss die Sozialverwaltung mehr liefern! Es muss jetzt etwas getan werden
       für die Unterkünfte ohne Verträge, wenigstens muss das Personal beim LAF
       für die Kontrollen massiv aufgestockt werden.
       
       Wenn morgen erneut ein Flüchtlingsansturm wie 2015 käme – wäre Berlin
       besser vorbereitet? 
       
       Auf jeden Fall. Es gibt ein Ankunftszentrum, es gibt frei gehaltene Plätze
       in Unterkünften und viele Dinge, die heute einfacher wären. Aber die
       Menschen wären öffentlich nicht mehr zu sehen, anders als damals am Lageso,
       das wäre ganz schlecht. Weil unterhalb des Radars eben immer noch viel
       schief läuft, viele gesetzliche Leistungen nicht erbracht werden.
       
       Viele Helferorganisationen klagen, die Hilfsbereitschaft der BürgerInnen
       gehe zurück. Spüren Sie das auch? 
       
       Wir haben immer noch die stetigen, hartnäckigen Menschen, die kaum Luft
       holen vor lauter Engagement. Aber auch wir haben ein Problem Leute zu
       finden etwa für die Kleiderkammer, keiner will mehr Klamotten sortieren.
       Außerdem sind unsere Arbeitszeiten schwierig, wir haben ja tagsüber auf,
       das können Arbeitnehmer nicht. Und bei vielen Ehrenamtlichen ist die Luft
       raus, weil sie sagen, sie haben keinen Bock mehr die Arbeit der
       Senatsverwaltung zu machen. Viele haben auch keine Kapazität mehr sich so
       einzusetzen wir vorletztes oder letztes Jahr. Damals haben sie ihren
       Jahresurlaub genommen um zu helfen, dafür hat heute kein Arbeitgeber mehr
       Verständnis.
       
       9 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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