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       # taz.de -- Die Wahrheit: Die Opfer werden immer dreister
       
       > Justiz: Trotz des neuen Opfergesetzes nimmt die Zahl der Delinquenten zu.
       > Mittlerweile trauen Täter sich kaum noch auf die Straße.
       
   IMG Bild: Ein notorisches Wiederholungsopfer? Wer allein und hilflos durch dunkle Unterführungen geht, ist ein verantwortungsloser Provokateur
       
       Zwei Jahre auf Bewährung und 2.000 Euro Geldstrafe. Entsetzt bricht Markus
       Meinhard auf seinem Stuhl zusammen, als er das Urteil hört und weint.
       
       Ein Jahr ist es her, dass Meinhard nachts vom U-Bahnhof nach Hause durch
       eine schlecht beleuchtete Grünanlage geht. Dort trifft er Daniel Sander,
       einen 35-jährigen Vorbestraften. Sander fordert Geld von Meinhard und
       dessen Brieftasche. Als dieser ihm nur 54 Euro und 20 Cent gibt („Mehr
       hatte ich einfach nicht mit“, sagt Meinhard vor Gericht), wird er
       zusammengeschlagen. Eine gebrochene Nase und mehrere Blutergüsse sind die
       Folge. Markus Meinhard geht am nächsten Tag zur Polizei, und Daniel Sander
       kann schon kurz darauf festgenommen werden.
       
       Deshalb hat Sander ihn jetzt verklagt. „Das kann doch nicht sein“, sagt
       Sander „dass dieser, dieser Arsch da nachts so arglos durch diesen Park
       latscht. Ich meine, ich bin seit meinem zwölften Lebensjahr
       Kleinkrimineller, bisschen Raub, bisschen Körperverletzung, auch mal
       Einbruch. Aber ich will da jetzt von wegkommen. Mal so ’n richtigen Job,
       geregelte Arbeitszeiten, ordentliches Einkommen, später vielleicht mal ’ne
       Rente. Und da kommt dieses, dieses Opfer – ja, so ’n richtiges Opfer ist
       der –, kommt da an und lässt sich von mir ausrauben. Ich mach das doch
       nicht freiwillig. Wenn der Typ da nicht angelatscht gekommen wäre – ich
       hätte ihm gar nichts getan.“
       
       ## An jedem Opfer hängen bis zu zehn Täter
       
       „Opfer“, sagt Kriminalhauptkommissar Dietmar Schulz vom BKA, „sind ein
       immer größer werdendes Problem. An jedem Opfer hängen ja bis zu zehn Täter.
       Wenn wir die Opferzahlen pro Jahr um nur zehn Prozent senken könnten, würde
       die Gesamtkriminalität ganz schön viel weniger werden. Und die Dunkelziffer
       ist sicher noch viel höher.“
       
       Markus Meinhard ist der erste Deutsche, der nach dem neuen Opferrecht
       verurteilt wird, das 2016 verabschiedet wurde. Ein mildes Urteil, darin
       sind sich der Anwalt des Klägers und der Richter einig. Aber, sagt der
       Richter in der Urteilsbegründung, rechtlich seien ihm die Hände gebunden.
       Eine höhere Strafe kann er nicht verhängen.
       
       Jetzt soll das Gesetz verschärft werden. „Im Ausland sind sie da schon
       weiter“, sagt Schulz. Der türkische Präsident Erdoğan will die Todesstrafe
       für Opfer von Terroranschlägen einführen. „Richtig“, sagt Schulz, „die
       Leute müssen Großveranstaltungen meiden. Die ziehen Terroristen an wie die
       Scheiße die Fliegen. Wir müssen aber auch gegen die Hintermänner vorgehen.“
       
       ## Opferschutzverbänden ist schwer etwas nachzuweisen
       
       ## 
       
       Die Hintermänner – das sind sogenannte Opferschutzverbände. Sie bieten
       Hilfe an und organisieren Treffen, auf denen Opfer sich gegenseitig
       unterstützen und Tipps geben können. „Denen ist ganz schwer was
       nachzuweisen. Die Opfer kommen anonym zusammen. Die Opferschutzverbände
       selbst – Kirchen oder gemeinnützige Vereine – bieten nur
       Informationsveranstaltungen und Rechtsberatung.“
       
       Informationsveranstaltungen, wie sie vielleicht auch Markus Meinhard
       besucht hat. Denn Meinhard ist nicht einfach nur Opfer, nein, er ist
       Wiederholungsopfer. Das fing mit Hänseleien und Verspottungen in der
       Grundschule an, gegen die er sich nicht wehrte. Später, in der Oberschule,
       wurde ihm von den Schulhofschlägern aus den höheren Klassen immer wieder
       das Pausenbrotgeld erpresst.
       
       „Der ist früher schon so verdruckst durch die Schulflure geschlichen“, sagt
       Sebastian Örtel, einer der Schlägertypen an Meinhards Schule. „Der hat sich
       alles gefallen lassen. Das hat ja schon fast keinen Spaß mehr gemacht. Gut,
       dass der irgendwann von der Schule abgegangen ist.“
       
       ## Tägliche Rempeleien in der U-Bahn
       
       Was dann folgte, davon können wahrscheinlich viele Opfer berichten: weitere
       Hänseleien an der Uni, Prügeleien, auch noch ein, zwei kleinere Überfälle.
       Von den täglichen Rempeleien in der U-Bahn ganz zu schweigen. Auch von
       seiner Lebensgefährtin wurde Meinhard verspottet und schon mal geschlagen,
       bis sie endlich den Absprung schaffte und sich von ihm trennte.
       
       Jetzt darf sich Meinhard zwei Jahre lang nichts zuschulden kommen lassen:
       keine Überfälle, keine Körperverletzung. „Ich darf mir nicht mal mehr von
       meinem Bankberater einen faulen Investmentfonds aufschwatzen lassen, der in
       einem Jahr pleitegeht.“
       
       Er fühlt sich als Opfer des Justizsystems. „Aber das sollte er besser nicht
       laut sagen“, meint sein Anwalt „sonst wird er gleich noch mal verurteilt.“
       
       Fälle wie der von Markus Meinhard gibt es viele. Das weiß auch die
       Psychologin Ines Grund, die sich seit Jahren mit der Thematik beschäftigt.
       
       ## Jahrelange Therapien vonnöten
       
       „Niemand wird als Opfer geboren“, sagt sie, „zum Opfer macht man sich in
       ersten Linie selbst. Das wussten schon die alten Achtundsechziger. Wer sich
       nicht wehrt, lebt verkehrt. Man kann das nicht alles auf die Gesellschaft
       schieben. Schwere Kindheit, Jugend – schön und gut, aber Opfersein ist die
       Entscheidung und Verantwortung jedes einzelnen Opfers.“
       
       Aus dem Opfersein kommt man sehr schwer wieder heraus. Oft sind jahrelange
       Therapien vonnöten. Therapien, wie sie auch Ines Grund anbietet. Markus
       Meinhard ist jetzt in Behandlung – eine Auflage des Richters und
       Voraussetzung für das milde Urteil. Es zeigen sich schon erste Erfolge. Auf
       die Frage, was er von dem Richter halte, antwortete Meinhard mit einem
       leicht zögernden: „Selber Opfer?“ Dann lächelt er hoffnungsfroh. Dabei hat
       er gar keinen Grund zu lächeln.
       
       10 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael-André Werner
       
       ## TAGS
       
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