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       # taz.de -- Abschluss des Marschs für Gerechtigkeit: Türkische Opposition wachgeküsst
       
       > Eine gewaltige Menschenmenge protestiert in Istanbul gegen Erdoğan. Der
       > Marsch für Gerechtigkeit gilt als großer Erfolg für die oppositionelle
       > CHP.
       
   IMG Bild: Schon heute gilt der Marsch in der Türkei als ein historisches Ereignis
       
       Istanbul taz | Schon seit dem Morgen füllte sich der Versammlungsplatz in
       Maltepe, gelegen auf der asiatischen Seite Istanbuls, mit immer mehr
       Menschen. Am Abend war das riesige Gelände am Meer – etwa drei Kilometer
       lang und über einen Kilometer breit – zum Bersten mit Menschen gefüllt.
       Erste Schätzungen gingen von mehr als 1,5 Millionen Personen aus, die dort
       am Sonntagabend für Gerechtigkeit in der Türkei demonstrierten.
       
       Es war der krönende Abschluss eines Marschs von Ankara nach Istanbul,
       organisiert von der oppositionellen CHP. Hier kamen all die zusammen, die
       mit der Politik von Präsident Rezep Tayyip Erdoğan nicht einverstanden
       sind: Gewerkschafter, Intellektuelle, Arbeiter. Auffällig waren die vielen
       Frauen, von denen kaum eine ein Kopftuch trug. Es war die säkulare Türkei,
       die am Sonntag in Istanbul zusammentraf.
       
       In seiner Abschlussrede nach einem mehr als dreiwöchigen Protestmarsch
       verlangte Oppositionsfüher Kemal Kılıçdaroğlu Freiheit und Gerechtigkeit
       für die Türkei. Der Chef der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP
       verurteilte zugleich Erdoğans Politik nach dem gescheiterten Putsch vor
       einem Jahr scharf.
       
       Die Sicherheitskräfte hielten sich weitgehend zurück. Zwar standen
       Wasserwerfer in Reserve, doch insgesamt verhielt sich die Polizei
       kooperativ.
       
       ## „Was unterscheidet euch von den Putschisten?“
       
       Schon während des Marschs, der am 15. Juni in der türkischen Hauptstadt
       Ankara begonnen hatte, war die Unterstützung für diese bewegliche
       Demonstration kontinuierlich gewachsen. Immer mehr Menschen liefen mit – in
       den letzten Tagen bis zu 50.000.
       
       „Erstmals seit Jahren“, schreibt der Kolumnist der Zeitung Hürriyet, Murat
       Yetkin, „ist es Kılıçdaroğlu gelungen, selbst die politische Agenda zu
       bestimmen, auf die nun Erdoğan reagieren muss.“ Plötzlich ist der scheinbar
       so unangreifbare Präsident in der Defensive. „Warum fährst du nicht mit dem
       Hochgeschwindigkeitszug von Ankara nach Istanbul, den ich gebaut habe?“ –
       mit solchen Sätzen hatte Erdoğan anfangs versucht, seinen politischen
       Gegner Kılıçdaroğluzu zu verunglimpfen. Doch das verfing nicht.
       
       Als sich stattdessen immer mehr Menschen Kılıçdaroğlu anschlossen,
       versuchte Erdoğan, die Teilnehmer in bewährter Weise als Sympathisanten des
       Terrors und der Putschisten zu denunzieren. „Was unterscheidet euch von den
       Putschisten“, rief er Kılıçdaroğlu zu, „auch ihr wollt doch nur das Land
       destabilisieren!“
       
       Kılıçdaroğlu aber ließ sich nicht provozieren. „Ich laufe nur und frage
       nach Gerechtigkeit“, antwortete er Erdoğan. „Was hat das mit Putschisten
       oder Terroristen zu tun?“ Immer mehr Prominente schlossen sich ihm an, dazu
       kamen Menschen, die seit dem Putschversuch in die Mühlen der staatlichen
       Repression geraten sind, Angehörige von Verhafteten etwa, aus dem
       Staatsdienst Entlassene, Verwandte von Opfern der Proteste am Gezipark und
       zuletzt Kurden, die bislang der CHP immer kritisch gegenübergestanden
       hatten. „Ich hätte niemals geglaubt, dass ich so viel Unterstützung
       bekommen würde“, sagte Kılıçdaroğlu bei seiner Ankunft an der Istanbuler
       Stadtgrenze vor zwei Tagen.
       
       ## Wieder Mut gefasst
       
       Lange war spekuliert worden, ob Erdoğan die Polizei und das Militär
       anweisen würde, den Protestmarsch noch vor Istanbul noch zu stoppen.
       Zuletzt hatte er scheinbar großmütig erklärt, solange von dem Marsch keine
       Gewalt ausgehe, könnte Kılıçdaroğlu ihn auch zu Ende führen. „Wer bist du,
       mir meine verfassungsgemäßen Rechte wie einen Gnadenakt zu präsentieren?“,
       antwortete Kılıçdaroğlu daraufhin an die Adresse Erdoğans. „Niemand kann
       uns daran hindern, nach Istanbul zu gehen.“
       
       Schon heute gilt der Marsch in der Türkei als ein historisches Ereignis.
       Nur einmal hat es in der Geschichte der Republik eine ähnliche Bewegung
       gegeben, als 1990 Bergarbeiter einen Sternmarsch nach Ankara
       veranstalteten. In der türkischen Presse wird Kılıçdaroğlus Marsch auch mit
       dem legendären „Salzmarsch“ von Mahatma Gandhi verglichen, mit dem 1930 der
       Protest gegen die Kolonisation Indiens durch England begann.
       
       Schon jetzt hat der Marsch zu einer deutlichen Veränderung des politischen
       Klimas in der Türkei geführt. Die Kritiker Erdoğans haben wieder Mut
       gefasst. „Danke, Kılıçdaroğlu“, schrieb eine Kolumnistin in der
       Tageszeitung Cumhuriyet, „du hast uns gezeigt, dass Widerstand immer noch
       möglich ist.“ Der Sohn eines der prominentesten getöteten Journalisten,
       Özgür Mumcu, schrieb: „Kılıçdaroğlu hat den Begriff ‚Gerechtigkeit‘ aus der
       Geiselhaft der AKP befreit.“ Die regierende Partei für Gerechtigkeit und
       Aufschwung (AKP) „steht nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern für
       Unterdrückung“.
       
       9 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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