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       # taz.de -- Neues von Tocotronic und Lowtzow: Hunde und Lieblingslieder
       
       > Tocotronic stellt mit „Coming Home“ eine Compilation ihrer Lieblingssongs
       > zusammen. Sänger Dirk von Lowtzow covert die Pet Shop Boys.
       
   IMG Bild: Legt als Band Wert aufs Nichtstun: Tocotronic
       
       Ein Jahrzehnt ist es her, da waren sie die Neinsager der Nation. Mit
       „Kapitulation“ veröffentlichten Tocotronic 2007 ein Album, das der
       Verweigerung als Protestform Tribut zollte. So freundlich und aufgeräumt,
       wie der Anwaltsgehilfe Bartleby in Herman Melvilles Erzählung „Bartleby,
       der Schreiber“ mit den Worten „I would prefer not to“ die Arbeit
       zurückweist, sang Dirk von Lowtzow [1][im Song „Luft“]: „Ja, ich habe
       heute nichts gemacht / Ja, meine Arbeit ist vollbracht.“ Im Interview
       erklärte er, Tocotronic legten als Band Wert auf das Nichtstun.
       „Kapitulation“, das war keine Anleitung zur Unterwerfung, sondern ein
       schönes, sperriges Statement gegen den Imperativ der Produktivität.
       
       Nun konnte man Tocotronic allerdings nie vorwerfen, eine faule Band zu
       sein. Seit ihrem Debütalbum „Digital ist besser“ (1995) veröffentlichten
       Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail, der 2004 zu
       Tocotronic stieß, beinahe alle zwei Jahre neues Material. Zusätzlich
       verfolgen alle Bandmitglieder Soloprojekte. Jetzt aber scheinen sie zum
       Müßiggang gefunden zu haben. Und sie tun, was MusikliebhaberInnen gern tun,
       wenn sie gerade keine neuen Songs komponieren: Sie graben sich durch die
       Popgeschichte.
       
       Für die Reihe „Coming Home“ haben Tocotronic zwei Jahre nach ihrem letzten
       Werk (das „Rote Album“, erschienen 2015) eine Compilation mit
       Lieblingsstücken zusammengestellt. Was hören nun die notorischen Neinsager
       Tocotronic?
       
       Nach dem Einstand mit dem ewig coolen Klassiker [2][„She Cracked“ von
       Jonathan Richmans Band The Modern Lovers] folgt die erste Überraschung: Den
       Garagenrock des jungen kalifornischen Freaks [3][Ty Segall] –
       Acid-induziert irre, ein wenig bierselig obendrein – hätte man nicht
       erwartet in der Plattensammlung einer Band, der seit jeher das etwas
       distinguierte Etikett „Diskursrock“ anhaftet. Vorhersehbarer vielleicht:
       [4][die Würdigung von Andreas Dorau], der vielleicht als irrer Urahne von
       Tocotronic durchgehen könnte.
       
       WegbegleiterInnen wie der scheuen [5][Berliner Indiekünstlerin Masha
       Qrella] erweisen Tocotronic in ihrer Auswahl ebenso Respekt wie
       MusikerInnen jenseits Europas, etwa der Tuareg-Band Tamikrest aus Mali und
       der russischen Underground-Punk-Ikone Yanka. Fragte man sich, unter wessen
       Einfluss aus den Rumpeljungs von einst die Pop-verliebten Mittvierziger
       werden konnten, findet man auf der Compilation auch eine Antwort: Mit „San
       Jose“ – hier [6][in der Version von Frankie Goes To Hollywood] – ist ein
       Standard aus dem Œuvre des Komponisten Burt Bacharach vertreten.
       
       Und sonst: Jazz von Ron Ayers, Shoegaze von Wand. Deutschpunk von Der
       Durstige Mann und lakonischer Rock von Courtney Barnett. All das
       Koordinaten, an denen sich das Spannungsfeld, in dem sich Tocotronic
       bewegen, gut beschreiben lässt.
       
       Fast zeitgleich mit der Compilation veröffentlichte Dirk von Lowtzow als
       Solist eine Coverversion: „I Want a Dog“, [7][im Original erschienen auf
       dem 1988er Album „Introspective“ der Pet Shop Boys]. Die B-Seite ist
       [8][eine minimalistische Version von Neil Youngs Song „Beautiful
       Bluebirds“] aus dem Jahr 2007. Moses Schneider produzierte, der Berliner
       Musikkurator Martin Hossbach veröffentlichte die Single auf seinem
       gleichnamigen Label.
       
       Im Video zeichnet der 46-Jährige konzentriert einen Comic-Hund. Dazu singt
       von Lowtzow, nur begleitet von einer Akustikgitarre, mit viel Hall auf der
       Stimme von der Einsamkeit und ihrer Überwindung: „When I get back to my
       small flat / I want to hear somebody bark.“ Wenn von Lowtzow das Wort
       „Cockerspaniel“ im Mund wendet, als denke er über seinen verborgenen Sinn
       nach, ist das ein hübscher Moment und eine Anregung noch dazu: Warum nicht
       auch Tocotronics verrätselte Songs einfach klingen lassen, statt sie
       reflexartig zu Tode zu deuten?
       
       Von Tocotronic erwartet man stets Großes und Größeres. Und das hat seinen
       Grund: Wie kaum eine andere deutsche Band bewiesen die renitenten Poeten,
       dass man als Linksintellektueller integer erwachsen werden, gar vom
       „Hamburger Schule“-Slacker zur Kulturinstitution reifen kann, ohne sein
       Gesicht zu verlieren. Warum nun Hunde und Lieblingslieder? Gegenfrage:
       Warum nicht. Auch darum geht es ja im Pop: Schönes zu schaffen, das sich
       selbst genug ist. Ihrem musikgewordenen Generalstreik „Kapitulation“ setzen
       Tocotronic zum zehnjährigen Jubiläum mit ihren hübschen, faulen Projekten
       ein kleines Denkmal.
       
       28 Jun 2017
       
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