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       # taz.de -- Pro & Contra zum Tarifeinheitsgesetz: Entmachtung kleiner Gewerkschaften
       
       > Sind sie nur auf einem Egotrip oder werden sie von den
       > Mehrheitsgewerkschaften vernachlässigt? Ein Pro und Contra.
       
   IMG Bild: Die großen Gewerkschaften wie die IG Metall werden durch das Gesetz gestärkt
       
       Pro 
       
       Die kleinen Gewerkschaften betreiben meist einen rabiaten Egotrip. Ob
       Lokführer, Piloten oder Ärzte: Sie versuchen, für sich selbst möglichst
       hohe Gehälter durchzusetzen – und sehen gelassen zu, wenn die anderen
       Beschäftigten im Betrieb deutlich weniger erhalten. Dieser Egoismus muss
       eingeschränkt werden.
       
       Das neue [1][Urteil des Bundesverfassungsgerichts] ist daher zu begrüßen,
       denn es hat das geltende „Tarifeinheitsgesetz“ weitgehend bestätigt: Auch
       künftig wird die mitgliederstärkste Gewerkschaft in einem Betrieb
       entscheiden, wie die Gehälter aussehen. Allerdings dürfen die Angehörigen
       der Minderheitsgewerkschaft nicht völlig entrechtet werden. Das
       Bundesverfassungsgericht verlangt also, dass die Gewerkschaften
       zusammenarbeiten. Das Motto lautet: Kooperation statt „Wettbewerb“.
       
       Dieser gesetzliche Zwang wurde überfällig, weil manche
       Spartengewerkschaften das Prinzip „Konkurrenz“ zum Daseinszweck erhoben.
       Typisch war Lokführer-Chef Weselsky, der unbedingt beweisen wollte, dass er
       der beste Streik-Feldherr ist. Doch diese Selbstbezogenheit führt nicht nur
       ins Chaos, wie alle Zugreisenden wissen, die diverse Lokführerstreiks
       durchleiden mussten. Vor allem ist sie ungerecht. Denn in diesem
       „Wettbewerb“ setzen sich jene Gewerkschaften durch, deren Mitglieder die
       größte Streikmacht haben.
       
       Wenn die Lokführer in den Ausstand treten, fährt ab sofort kein Zug mehr.
       Wenn die Angestellten in den Reparaturwerkstätten streiken, dauert es
       Wochen, bevor der Bahnbetrieb gefährdet ist. Allein hätten die
       Reparaturabteilungen also keine Chance, ihre Lohnforderungen durchzusetzen.
       Sie sind auf das Erpressungspotenzial der Lokführer angewiesen.
       
       Doch diese Solidarität hat Weselsky bisher verweigert. Er sieht nur das
       Zugpersonal – und nennt das dann „Konkurrenz“. Ähnlich gehen die Ärzte vor,
       die sich nicht für die Gehälter des Pflegepersonals interessieren, oder die
       Piloten, denen die Flugbegleiter egal sind. Dieser Egoismus ist künftig
       schwieriger – und das ist gut so.
       
       Die Spartengewerkschafter barmen jetzt, dass die Arbeitgeber ihre Betriebe
       so lange umfirmieren, bis genehme Gewerkschaften die meisten Mitglieder
       haben. Doch diesen Trick können die Gewerkschaften ganz leicht umgehen:
       indem sie endlich miteinander kooperieren. Mehr will auch das
       Bundesverfassungsgericht nicht. 
       
       Ulrike Herrmann 
       
       Contra 
       
       Selten hat das Bundesverfassungsgericht so danebengelegen wie mit seinem
       Urteil zum Tarifeinheitsgesetz. Mit ihrer Mehrheitsentscheidung, es im Kern
       mit dem Grundgesetz für vereinbar zu erklären, haben die Karlsruher Richter
       einen massiven Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte
       Koalitionsfreiheit erlaubt.
       
       Daran ändern auch die geforderten Nachbesserungen nichts. So bleibt völlig
       unklar, wie der Gesetzgeber sicherstellen soll, dass die Interessen von
       Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, die von einer Mehrheitsgewerkschaft
       vernachlässigt oder gar ignoriert werden, „hinreichend“ berücksichtigt
       werden. Das Tarifeinheitsgesetz legt fest, dass im Konfliktfall nur noch
       der von der mitgliederstärksten Gewerkschaft in einem Betrieb ausgehandelte
       Tarifvertrag gilt.
       
       Das bedeutet, dass eine Arbeitnehmervertretung wie die
       Lokführergewerkschaft GDL zwar die meisten Beschäftigten in einer
       Berufsgruppe organisieren kann, aber trotzdem unter Umständen nichts mehr
       zu melden hat, weil sie im Gesamtbetrieb nur in der Minderheit ist. Klar
       lässt sich trefflich über die Gruppenegoismen von bislang
       durchsetzungsstarken Spartengewerkschaften wie der Pilotenvereinigung
       Cockpit lamentieren. Doch rechtfertigt das, Grundrechte de facto unter
       Mehrheitsvorbehalt zu stellen?
       
       Dass Gewerkschaften nun immer wieder vor, während und nach
       Tarifverhandlungen den Beweis erbringen müssen, die Mehrheit der Mitglieder
       in einem Betrieb zu stellen, dürfte sich überdies als
       Beschäftigungsprogramm für die Arbeitsgerichte erweisen. In der Hoffnung,
       die ungeliebten Spartengewerkschaften vom Hals zu bekommen, haben die
       meisten DGB-Gewerkschaften das Gesetz von Arbeitsministerin Andrea Nahles
       begrüßt.
       
       Aber sie sollten sich nicht zu früh freuen. Wirklichen Grund, die
       Sektkorken knallen zu lassen, haben nur die Arbeitgeber. Denn sie allein
       bestimmen, welche Arbeitseinheiten zu einem Betrieb gehören. Das bedeutet,
       dass sie künftig durch den passenden Zuschnitt von Betrieben auch noch die
       Hoheit darüber erhalten, welcher Tarifvertrag kraft seiner Mehrheit
       dominiert.
       
       Aufgabe einer sozialdemokratischen Arbeitsministerin wäre es,
       Arbeitnehmerrechte zu stärken. Andrea Nahles hat das Gegenteil getan. Dass
       die Karlsruher Richter ihr dazu jetzt den Segen erteilt haben, ist traurig.
       
       Pascal Beucker
       
       11 Jul 2017
       
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