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       # taz.de -- Urteil zum Tarifeinheitsgesetz: Kompliziert und mit Streitpotential
       
       > Das Verfassungsgericht schützt mit seinem Urteil wichtige Rechte kleiner
       > Gewerkschaften. Womöglich gehen jetzt aber erst recht die Konflikte los.
       
   IMG Bild: Besonders wichtig für die kleinen Gewerkschaften: Das Streikrecht bleibt. Das Bild zeigt Ärzt*innen und medizinisches Personal bei einem Streik des Marburger Bundes im Jahr 2014
       
       Karlsruhe taz | [1][Das Bundesverfassungsgericht hat das
       Tarifeinheitsgesetz der Großen Koalition weitgehend akzeptiert] – nachdem
       es zentrale Interessen kleiner Gewerkschaften in das Gesetz
       hineininterpretierte. Vor allem deren Streikrecht bleibt für sie voll
       bestehen.
       
       Tarifeinheit bedeutet, dass pro Betrieb nur ein Tarifvertrag gilt. Das
       Prinzip soll verhindern, dass ständig eine andere Gewerkschaft für „ihren“
       Tarifvertrag streikt und die Unternehmen nicht zur Ruhe kommen.
       
       Eigentlich ist die Tarifeinheit nichts Neues. In Deutschland galt diese
       seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 1957. Die
       Tarifeinheit war aber immer umstritten, weil sie in die grundgesetzlich
       geschützten Rechte von Gewerkschaften eingreift. 2010 erklärte das BAG
       deshalb, dass nur der Gesetzgeber die Tarifeinheit einführen könne. DGB und
       Arbeitgeber machten Druck auf den Bundestag und forderten ein
       entsprechendes Gesetz.
       
       Die Große Koalition erfüllte fünf Jahre später diesen Wunsch und beschloss
       das Tarifeinheitsgesetz. Im Konfliktfall soll nur der Tarifvertrag der
       Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Der
       Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft würde „verdrängt“, also unter den
       Tisch fallen. Als Ausgleich hat die kleinere Gewerkschaft das Recht, den
       Mehrheitstarifvertrag für ihre Mitglieder „nachzuzeichnen“, also zu
       übernehmen. Das Gesetz, so Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), sei ein
       „Anreiz zur Kooperation“ der Gewerkschaften.
       
       ## Spartengewerkschaften sahen Existenz bedroht
       
       Die kleinen Gewerkschaften sahen ihre Existenz bedroht. Wie sollen sie noch
       Mitglieder werben, wenn ihre ausgehandelten Tarifverträge am Ende nicht
       gelten? Würden nicht Arbeitsgerichte jeden ihrer Streiks verbieten, weil es
       unverhältnismäßig wäre, für einen wirkungslosen Tarifvertrag zu streiken?
       
       Deshalb klagten die Spartengewerkschaften in Karlsruhe: die
       Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Lokführergewerkschaft GdL, die
       Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (UFO) und die Pilotenvereinigung
       Cockpit. Als einzige DGB-Gewerkschaft hatte auch Verdi
       Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie muss in manchen Kliniken die Konkurrenz
       des Marburger Bunds fürchten.
       
       Das Bundesverfassungsgericht nutzte die Klage für ein Grundsatzurteil. Das
       Recht, Gewerkschaften zu gründen und Tarifverträge zu schließen – die
       Koalitionsfreiheit –, sei ein „Freiheitsrecht“, so die Richter. Es sei
       deshalb kein legitimes Ziel für den Gesetzgeber, bestimmte Typen von
       Gewerkschaften klein zu halten. Der Bundestag dürfe aber die
       Rahmenbedingungen regeln, damit die Tarifautonomie funktioniert und faire,
       angemessene Tarifverträge ermöglicht. Dazu darf der Gesetzgeber verhindern,
       dass „Schlüsselpositionen“ in Betrieben ausgenutzt werden, um für die
       eigene Gruppe Ergebnisse zulasten der übrigen Beschäftigten zu erzielen.
       
       Die „Verdrängung“ von Tarifverträgen sei jedoch ein schwerer Eingriff in
       die Tarifautonomie, so die Richter. Er sei nur zu rechtfertigen, wenn das
       Gesetz einschränkend ausgelegt wird. So sollen die Arbeitsgerichte stets
       prüfen, ob nicht doch beide Tarifverträge nebeneinander anwendbar sein
       können. Jedenfalls dürften „längerfristig bedeutsame“ Errungenschaften
       eines Minderheitstarifvertrags nicht verdrängt werden. Wenn etwa eine
       Arbeitsplatzgarantie oder eine Betriebsrente vereinbart wurde, dann müsse
       dies erhalten bleiben. Dies müssen entweder die Arbeitsgerichte oder der
       Gesetzgeber sicherstellen.
       
       Punktuell verfassungswidrig sei das Tarifeinheitsgesetz, weil es nicht
       sicherstellt, dass die Interessen kleiner Berufsgruppen, deren Tarifvertrag
       verdrängt wird, am Ende überhaupt berücksichtigt werden. Hier muss der
       Bundestag bis Ende 2018 nachbessern. Das Tarifeinheitsgesetz bleibt bis
       dahin in Kraft – unter der Bedingung, dass Mehrheitsgewerkschaften nun
       „ernsthaft und wirksam“ die Interessen der Minderheitsgewerkschaften
       berücksichtigen.
       
       ## Streikrecht bleibt
       
       Besonders wichtig für die kleinen Gewerkschaften ist aber, dass das
       Bundesverfassungsgericht ihr Streikrecht garantiert hat. Auch wenn sie
       eindeutig weniger Mitglieder haben, dürfen sie für einen eigenen
       Tarifvertrag streiken, denn nur eine Gewerkschaft, die einen eigenen
       (verdrängten) Tarifvertrag hat, darf anschließend den Tarifvertrag der
       Mehrheitsgewerkschaft übernehmen.
       
       Die beiden Richter Susanne Baer und Andreas Pauslus kritisierten das Urteil
       scharf und gaben ein Sondervotum ab. Es sei schon fraglich, ob es überhaupt
       ein Problem mit kleinen Gewerkschaften gebe. Jedenfalls machten diese nur
       von ihren Grundrechten Gebrauch und hätten auch gute Gründe gehabt, sich
       von den DGB-Gewerkschaften abzuspalten. Das Verdrängen ihrer Tarifverträge
       sei unverhältnismäßig, das Tarifeinheitsgesetz deshalb verfassungswidrig.
       
       Passenderweise wurden Baer und Paulus einst von den kleinen Parteien (Grüne
       und FDP) als Verfassungsrichter vorgeschlagen, während die sechs Richter um
       den Senatsvorsitzenden Ferdinand Kirchhof, die einst von den großen
       Parteien (Union und SPD) nominiert wurden, das Gesetz durch richterliche
       Nachbesserungen retteten.
       
       Wie geht es nun weiter? Möglicherweise beginnen jetzt erst die Konflikte,
       die das Gesetz eigentlich vermeiden will. Auch kleinere Gewerkschaften
       könnten nun versucht sein, durch populäre Forderungen, aggressive Streiks
       und die Vertretung zusätzlicher Berufsgruppen selbst zur Mehrheit im
       Betrieb zu werden.
       
       Um solche Konflikte zu vermeiden, könnten die Tarifparteien aber auch die
       Verdrängung von Tarifverträgen per Vertrag ausschließen. So ist es bei der
       Bahn zumindest bis 2020 geregelt. Dass dies zulässig ist, hat Karlsruhe
       jetzt ausdrücklich festgestellt.
       
       Der Bundestag könnte nach der Wahl aber auch zum Schluss kommen, dass das
       Tarifeinheitsgesetz wenig bringt und nur Ärger macht – und es einfach
       wieder abschaffen. (Az.: 1 BvR 1571/15)
       
       11 Jul 2017
       
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