URI: 
       # taz.de -- Deutsche Asylpolitik: Was, wenn sie mich auch abholen?
       
       > Trotz des Krieges behält Afghanistan seinen Status als sicheres
       > Herkunftsland. Unser Autor begleitet Freunde, die vor der Abschiebung
       > stehen.
       
   IMG Bild: Deutschland schiebt immer wieder nach Afghanistan ab
       
       Als Peer mich vor einigen Wochen anrief, wusste ich sofort, dass etwas
       nicht stimmte. Mein Freund – ansonsten meist lustig und entspannt – klang
       ernst und besorgt. „Ich habe diesen Brief bekommen. Nun ist es vorbei“,
       sagte er. Der Brief war nichts anderes als ein Abschiebungsbescheid.
       Deutschland hatte beschlossen, meinen Freund Peer nach Afghanistan, unserer
       von Krieg geplagten Heimat, zurückzuschicken.
       
       Seit sechs Jahren lebt Peer in Stuttgart. 2011 floh er aus seiner
       Heimatprovinz Paktia im Osten Afghanistans aufgrund der eskalierenden
       Sicherheitslage. Peers Dorf liegt abgeschieden. Es gibt keinen Strom und
       kein Telefonnetz. Taliban-Kämpfer und Soldaten der afghanischen Armee
       bekämpfen sich in der Region regelmäßig. Hinzu kommen noch
       Nato-Luftangriffe und Spezialeinsätze des amerikanischen Militärs. Zivile
       Opfer gibt es immer wieder.
       
       Über den Iran, die Türkei, Griechenland und die Balkanroute erreichte Peer
       letztendlich Deutschland. Bereits ein Jahr nachdem er seinen Asylantrag
       stellte, fand er eine Stelle als Reinigungskraft. Seitdem arbeitet Peer,
       zahlt Steuern und spricht gutes Deutsch. In den vergangenen fünf Jahren
       wurde Stuttgart zu seinem Lebensmittelpunkt. Er begann, seine Zukunft hier
       zu planen.
       
       Plötzlich kam alles anders. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
       teilte ihm plötzlich mit, dass seine Abschiebung in die Wege geleitet
       werde. Außerdem wurde ihm schriftlich nahegelegt, Deutschland „freiwillig“
       zu verlassen, um den Prozess einfacher zu gestalten.
       
       Peer wusste, was geschehen würde, wenn er dem nicht nachkommen würde. Er
       kennt die Geschichten jener Afghanen, die von der Polizei aus dem Schlaf
       gerissen und in ein Flugzeug gesteckt wurden, nur allzu gut. Stets hat er
       gehofft, diese stetige Angst nicht erleben zu müssen – doch nun war sie da.
       
       ## Seit fast vierzig Jahren Krieg
       
       Auch mich bedrückte die Situation. Mittlerweile ist es nämlich so, dass
       Peer nur einer von vielen meiner afghanischen Freunde und Bekannten ist,
       die unmittelbar vor ihrer Abschiebung stehen oder den Bescheid erwarten.
       Denn während Geflüchtete aus dem Irak oder aus Syrien hier in Sicherheit
       sind, ist die Abschiebung von Afghanen europaweit zum Trend geworden – und
       das, obwohl am Hindukusch seit fast vierzig Jahren Krieg herrscht.
       
       Dennoch hat sich in den Köpfen vieler Politiker festgesetzt, dass viele
       Afghanen lediglich aus wirtschaftlichen Gründen fliehen und es in deren
       Heimat genug „sichere Regionen“ geben würde. Die Bundesregierung spielt
       dieses perfide Spiel mit, obwohl sie bis zum heutigen Tag keine einzige
       Region, die angeblich sicher sein soll, nennen konnte.
       
       Doch die Verantwortlichen für das Dilemma der Afghanen sitzen nicht nur in
       Berlin oder Brüssel. Im vergangenen Oktober unterzeichnete die afghanische
       Regierung einen Deal mit der EU, der im Gegenzug von Milliardengeldern die
       Abschiebung einer unbegrenzten Anzahl afghanischer Geflüchteter garantiert.
       Afghanistans Präsident Aschraf Ghani meinte unter anderem, dass die Gelder
       nötig seien, um Afghanistans Wirtschaft voranzubringen. Dabei ist vielen
       klar, dass die Milliarden abermals im korrupten politischen System des
       Landes versickern werden – so wie es schon in den Jahren zuvor geschehen
       ist.
       
       Für Peer ist klar: Die afghanische Regierung hat ihn verkauft, so wie sie
       es mit zahlreichen anderen Geflüchteten getan hat. Aus diesem Grund gilt
       seine Wut vor allem der politischen Elite in Kabul. Ich kann diese Wut
       teilen. Die Heuchelei der Politiker ist nämlich nur allzu offensichtlich.
       In einem Interview mit der britischen BBC meinte Präsident Ghani etwa
       zynisch, dass er keine Sympathie für Geflüchtete aus Afghanistan hege.
       
       Ghani selbst verbrachte viele Jahre in den Vereinigten Staaten. Seine
       Kinder leben weiterhin dort. Andere afghanische Politiker haben ihre
       Familien schon längst außer Landes gebracht. Viele von ihnen leben schon
       seit Jahren im Ausland.
       
       ## Als Einzelner machtlos
       
       „Wie können solche Menschen es wagen, über unser Leben und über unser
       Schicksal zu entscheiden? Das ist die reinste Scharade“, meint Peer. Die
       Klagen meiner anderen Freunde sind ähnlich. „Dank unserer korrupten
       Politiker habe ich jeden Tag Angst, abgeholt zu werden“, meinte Mirwais
       etwa vor einigen Wochen.
       
       Mittlerweile wurde er abgeholt. Österreich hat ihn gemeinsam mit weiteren
       Geflüchteten vor Kurzem abgeschoben. Er landete ausgerechnet an jenem Tag
       in Kabul, an dem eine Bombe über 150 Menschen mitten in der Stadt in den
       Tod riss. Dank eines anderen Freundes, Fardeen, erfuhr ich erst von
       Mirwais’ Abschiebung.
       
       Fardeen ist mittlerweile abgetaucht. „Ich kann nicht mehr schlafen. Was,
       wenn sie mich wie Mirwais einfach holen und in den Flieger stecken?“,
       fragte er mich letztens verzweifelt. Es sind solche Momente, die auch mich
       verzweifeln lassen. Sie lassen einen spüren, wie machtlos man als Einzelner
       in diesem politischen System sein kann. Fardeen übernachtet mittlerweile
       nur noch bei Freunden. Dies hat ihm mittlerweile selbst der Leiter seines
       Flüchtlingsheimes empfohlen. „Mach das mal, solange sich die Situation
       nicht ändert“, meinte dieser zu ihm.
       
       Entgegen der Narrative ist Afghanistans gegenwärtige Realität nämlich
       folgende: Selbstmordanschläge und Bombenangriffe gehören zum Alltag in
       großen Städten wie Kabul, Masar-i Scharif, Herat oder Dschalalabad.
       Aktuellen UN-Zahlen zufolge erreicht die Gewalt im Land regelmäßig einen
       neuen Höhepunkt. 2016 wurden am Hindukusch über 11.500 Zivilisten verletzt
       oder getötet. Ein Drittel der Opfer sind Kinder gewesen. Von Januar bis
       März 2017 wurden mindestens 2.181 zivile Kriegsopfer von den UN gezählt.
       Die meisten Opfer während dieses Zeitraums stammen aus Kabul – jenem Kabul,
       in das Geflüchtete abgeschoben werden.
       
       Vor all dieser Gewalt ist niemand sicher. Im Juni wurde bei einem Anschlag
       in Kabul unter anderem auch ein Minderjähriger getötet, der Human Rights
       Watch zufolge am 30. Mai von Schweden abgeschoben wurde.
       
       ## Sie machen nur ihren Job
       
       Nach dem jüngsten großen Anschlag in Kabul wurden Massenabschiebungen aus
       Deutschland vorerst ausgesetzt. Laut der Bundesregierung werde die
       Sicherheitslage im Land nochmals überprüft. Allerdings will sie an ihrer
       Abschiebepraxis weiterhin festhalten. „Freiwillige Rückkehr“ steht
       weiterhin auf dem Programm.
       
       Würde mein Freund Peer in Kabul landen, wäre er dort vollkommen auf sich
       allein gestellt. Abgesehen davon, dass kein einziges seiner
       Familienmitglieder in Kabul lebt, würde er die Stadt zum allerersten Mal in
       seinem Leben betreten. „Ich weiß nicht, was ich dort machen soll. Doch wenn
       mich die Behörden zur Rückkehr zwingen, habe ich wohl keine andere Wahl“,
       so Peer.
       
       Kurz nachdem Peer seinen Abschiebebescheid Ende April erhalten hat,
       begleitete ich ihn zu mehreren Ämtern. Ich dachte mir, dass sich schon
       irgendwie ein Ausweg finden lässt. Wie naiv ich doch war. Das deutsche
       Beamtentum hat mir in diesen Stunden abermals deutlich gemacht, wie sehr es
       von Ignoranz und Desinteresse dominiert wird.
       
       Ich fragte die Beamten im Ausländeramt und im Rathaus, ob sie sich über die
       Lage in Afghanistan bewusst seien. Ich wollte von ihnen wissen, wie sie
       reagieren würden, wenn mein Freund nach seiner Abschiebung dort zu Schaden
       kommt oder gar stirbt. „Sie wissen, wie die gegenwärtige Praxis ist.“
       „Vielleicht hat er ja etwas angestellt.“ „Wir können da leider auch nichts
       machen.“ Derartige Sätze hörten wir immer und immer wieder.
       
       Doch kann man ihnen wirklich die Schuld geben? Sie haben ja nichts gemacht,
       nur ihren Job. Sie arbeiten, genießen ihr Feierabendbier und schmeißen sich
       abends in die Couch. Peers Leben ist anders. Er weiß nicht, was auf ihn
       zukommt. Er hat, wie er es selbst ausdrückt, die Kontrolle darüber verloren
       – weil andere rücksichtslos über sein Schicksal entscheiden.
       
       5 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Emran Feroz
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Afghanistan
   DIR Abschiebung
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Afghanische Flüchtlinge
   DIR Flüchtlinge
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Abschiebung
   DIR Schwerpunkt Afghanistan
   DIR Schwerpunkt Afghanistan
   DIR EuGH
   DIR Kabul
   DIR Abschiebung
   DIR UN
   DIR Migration
   DIR Asyl
   DIR Golfstaaten
   DIR Schwerpunkt Afghanistan
   DIR Schwerpunkt Afghanistan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Schweden lehnt Asyl für Afghanin ab: 106 und vor der Abschiebung
       
       Sie gilt als ältester Flüchtling der Welt. Nun will Schweden Bibihal Uzbeki
       nach Afghanistan abschieben – trotz Schlaganfall.
       
   DIR Taliban-Angriff in Afghanistan: Familien getrennt und erschossen
       
       Bei dem Angriff starben mindestens 36 Menschen. Ob die Taliban und der „IS“
       dabei gemeinsam vorgegangen sind, ist unklar.
       
   DIR Sicheres Herkunftsland Afghanistan: Krasse Fehleinschätzungen
       
       Die Lage im Land sei überwiegend sicher, das Risiko für Abgeschobene
       gering, findet das Auswärtige Amt. Mit der Realität hat das wenig zu tun.
       
   DIR EuGH-Urteil zur Balkanroute: Das Dublin-Abkommen gilt
       
       Der EuGH hat über die Einreise von Flüchtlingen auf der Balkanroute
       geurteilt. Slowenien und Ungarn werden wohl Geflüchtete aufnehmen müssen.
       
   DIR Terror in Afghanistan: Autobombe tötet 24 Menschen
       
       In Kabul detonierte am Montagmorgen eine Autobombe nahe des Hauses des
       Vize-Regierungsgeschäftsführers. Mindestens 24 Menschen kamen ums Leben.
       
   DIR Bundesverfassungsgericht urteilt: Blitzabschiebung gestoppt
       
       Die Abschiebung eines erkrankten Nigerianers wurde vorerst untersagt. Auch
       bei kurzfristigen Ausweisungen müsse eine Einzelfallprüfung möglich sein.
       
   DIR UN-Bericht zum Krieg in Afghanistan: Zahl ziviler Opfer auf Rekordniveau
       
       In Afghanistan sterben immer mehr Frauen und Kinder. Der Halbjahresbericht
       der Vereinten Nationen zeichnet ein verheerendes Bild.
       
   DIR Neuanfang von Flüchtlingen in Athen: „Wir sind nicht da, um zu faulenzen“
       
       Familie Karimi gelang die Flucht von Afghanistan nach Athen – weiter
       westwärts will sie nicht. Nun möchte sie sich ein neues Leben aufbauen.
       
   DIR Neue Asylanträge in Deutschland: Zahlen deutlich gesunken
       
       Im ersten Halbjahr 2017 seien rund 70 Prozent weniger Anträge gestellt
       worden als 2016. Das BAMF entscheide schneller. Knapp 40 Prozent würden
       abgelehnt.
       
   DIR Debatte Waffen aus Deutschland: Drohnen zu Windrädern
       
       Um den Teufelskreis aus Militarisierung und Repression in Nahost zu
       durchbrechen, gehören die arabischen Kriegsparteien auf die rote Liste.
       
   DIR Bombenexplosion in West-Afghanistan: Taliban töten sechs Zivilisten
       
       Innerhalb nur einer Woche sind am Hindukusch mindestens 17 Menschen durch
       Sprengsätze gestorben. 2016 kam es dadurch zu über 2.000 Toten und
       Verletzen.
       
   DIR Nach dem Anschlag in Afghanistan: Abschiebeflug verschoben
       
       Der Flug soll aus organisatorischen Grünen nicht starten. In den nächsten
       Tagen soll es keine Abschiebungen geben, sie werden aber nicht
       grundsätzlich ausgesetzt.