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       # taz.de -- Popmusik und G-20-Gipfel: Im Blick das Varieté des Grauens
       
       > Wenn die Politik zum Gipfel trommelt, ist der Pop nicht fern. Statt die
       > Welt zu einer besseren zu machen, muss er sich als Gegengipfel
       > inszenieren.
       
   IMG Bild: Global citizens bei einem Manu-Chao-Auftritt in Budapest 2013
       
       Wenn wieder einmal das weite Feld der Politik erfüllt ist vom Lärm
       monströser Maschinen, die es beackern, dann erblühen an seinem äußersten
       Rand immer auch ein paar wilde Blumen. Das ist Pop, der die Politik zum
       Gegenstand hat. Ein seltsames Phänomen. Zumal die Musik nicht nur am Rand
       großer Gipfel spielt, sondern auch in seinem Zentrum. Für die in Hamburg
       erwarteten Weltenlenker wird Kent Nagano in der Elbphilharmonie die 9.
       Sinfonie von Beethoven dirigieren, inklusive der „Ode an die Freude“.
       
       Während die Hochkultur traditionell vor den Karren des politischen
       Establishments gespannt wird, geht es im dissidenten Umfeld der
       entsprechenden Ereignisse freier zu – wenn auch nicht immer weniger
       etabliert. So treten im Rahmen der Proteste gegen den G-20-Gipfel beim
       „Global Citizen Festival“ unter der Schirmherrschaft von Chris Martin unter
       anderem Coldplay selbst, Herbert Grönemeyer, Shakira, Pharrell Williams,
       Andreas Bourani, Ellie Goulding und Lena auf. Nicht nur tritt hier auf, wer
       ohnehin andauernd im Radio gespielt wird.
       
       Das Konzert selbst wird von Bill Gates finanziert, der einen Teil seines
       obszönen Reichtums dazu nutzt, obszöne Armut zu bekämpfen. So soll das
       „Global Citizen Festival“ laut seiner Leitung dazu dienen, die „weltweit
       einflussreichsten Staats- und Regierungschefs dazu aufzurufen,
       Verantwortung für die Ärmsten der Armen zu übernehmen“. Eines der 9.000
       Tickets bekommt nur, wer über soziale Netzwerke das Anliegen von Bill Gates
       verbreitet. Womit der Pop doch wieder eingehegt und eingespannt wäre, nur
       für eine andere Sache. Wäre das schlimm, wenn die Sache doch eine gute ist?
       
       Mit Musik im Allgemeinen hat das nur noch wenig zu tun, mit Pop dagegen
       allerhand. Zieht man versuchsweise den Glamour ab, das modische Geflecht
       der Zeichen und Harmonien, bringt man für wenige Sekunden das Heer seiner
       Exegeten zum Schweigen – dann erscheint Pop ganz nackt als eher ephemeres
       kulturelles Ereignis, das sich selbst popularisiert. Nicht mehr oder
       weniger. Sondern auf keinen Fall weniger, möglicherweise aber mehr.
       
       ## Ausstülpung der Popkultur in den politischen Raum
       
       Pop, den keiner hört, ist kein Pop. Wirklich populäre Musik dagegen
       mobilisiert Massen. Zunächst nur zum Konsum der Musik, aber eben auch für
       andere Ziele. Darin liegt ihre Kraft. Oder, wie der einflussreiche Aktivist
       Hugh Evans mit Blick auf das Spektakel in Hamburg formulierte: „Die
       Bevölkerung der Welt muss Druck auf ihre Entscheider aufbauen, damit diese
       die notwendigen Maßnahmen ergreifen.“
       
       Die Logik ist eine politische und geht so: Anstatt „die Welt“, wie es immer
       so schön heißt, mit ein paar Akkorden „zu einem besseren Ort“ machen zu
       wollen, statt also musisches Mikromanagement des eigenen Gewissens zu
       betreiben, muss sich Pop in seiner reinen Ereignishaftigkeit selbst als
       eine Art „Gegengipfel“ inszenieren. Die Verstärker, die auf der Bühne
       stehen, amplifizieren demnach nicht nur die Instrumente, sondern auch eine
       übergeordnete Botschaft, die sogar tendenziell politfernes Geträller
       locker überstrahlt. Schalldruck ist politischer Druck.
       
       Die Mutter aller Benefiz- oder Charityveranstaltungen ist das „Concert For
       Bangladesh“, 1971 von George Harrison zugunsten von Kriegsflüchtlingen
       organisiert. Es war, wenn man so will, die erste echte Ausstülpung der
       Popkultur in den politischen Raum – der durchaus erfolgreiche Versuch, die
       Begeisterung des Publikums nicht im Privaten verpuffen, sondern Wirkung
       entfalten zu lassen.
       
       Nach zahlreichen vergleichbaren Veranstaltungen, vor allem nach „Band Aid“
       und „Live Aid“ in den achtziger Jahren, hat sich für diese Form des
       Aktivismus (und nach dem Namen eines seiner notorischen Initiatoren) der
       leicht abfällige Begriff des Geldofismus eingebürgert: Pop und Publikum
       begeben sich zugunsten eines löblichen Zweckes in eine Win-win-Situation.
       Der Star schärft sein Profil, der Fan tanzt (und zahlt) ohne Reue. Tue
       Gutes … und schreibe einen Song darüber!
       
       ## Alle anstehenden Probleme der Welt im Blick
       
       Seit den nuller Jahren hat sich dieses Phänomen weiter professionalisiert –
       und wird darüber dem Gegenstand seiner Kritik immer ähnlicher. Als
       globalisiertes Vehikel zahlreicher NGOs ist es zu einem Spektakel geworden,
       bei dem nicht mehr nur gezielt einzelne Missstände (Krieg in Bangladesch,
       Hunger in Äthiopien) adressiert werden. In den Blick kommt das komplette
       Varieté des Grauens, geboten wird eine umfassende Tour d’Horizon über alle
       anstehenden Probleme der Welt.
       
       Zuletzt, 2016 in New York, ging es bei den kurzen Ansprachen zwischen den
       Sets um so verschiedene Themen wie Bildungschancen junger Mädchen, sauberes
       Wasser, syrische Flüchtlinge, rasche Lieferung von Nahrungsmitteln und
       saubere Toiletten. Erregungsangebote und ihre „Lösung in naher Zukunft“,
       hier gibt es sie im Paket. Nicht nur konkurrieren dabei die Themen, auch
       die Hilfsorganisationen graben einander das Wasser der Aufmerksamkeit ab.
       Es ist ein Dilemma. Wenn ich Gutes tue und darüber einen Song schreibe, ist
       es dann noch Gutes?
       
       Es ist vor allem ein Dilemma, das vielleicht gar keiner Auflösung bedarf.
       Neil Young kämpft für saubere Energien, Radiohead verwenden nur LED für
       ihre Lightshow – die tun das einfach. Sting, der sich gegen die Abholzung
       von Regenwäldern engagiert, sagte mir einmal im persönlichen Gespräch: „Ich
       bin Musiker. Und ich bin Bürger. Als Bürger habe ich die Pflicht, etwas zu
       tun, wenn ich das kann.“ Und er könne mehr tun als andere Bürger, weil er
       eben Musiker sei.
       
       Eine Begegnung mit Bono fühlt sich da schon anders an. Der Sänger von U2
       repräsentiert den Typus des Popstars, der sich mit dem ganzen Gewicht
       seiner Prominenz auf das Feld der Politik geworfen hat. In Hinterzimmern
       und auf Konferenzen ist er dabei selbst zum Politiker geworden, sein
       Pragmatismus ist von Zynismus kaum zu unterscheiden: „Man muss den Leuten
       das Gefühl geben, es gäbe eine Bewegung. Der Rest ergibt sich dann von
       allein“. Und wenn der Star eine Kernkompetenz hat, dann die, den Leuten
       „ein Gefühl zu geben“.
       
       ## Kleckern oder klotzen?
       
       Dass er dafür angefeindet wird, dass ihm Kritiker seinen ökologischen
       Fußabdruck oder seine Steuertricks vorrechnen, ihm Größenwahn vorwerfen,
       das kümmert diesen Typus nicht, da zuckt er nur mit den Schultern: „Keine
       gute Tat bleibt ungestraft.“ Es müsse geklotzt werden, nicht gekleckert.
       Und ist es nicht immer besser, etwas zu „TUN“ (Grönemeyer), statt es
       bleiben zu lassen? Vielleicht. Ist das noch politische Schönheit?
       Vielleicht nicht.
       
       Womöglich ist es aber auch ein mehr als nur romantischer Impuls, sich die
       Kleckernden genauer anzuschauen – nicht die globalen Großklotzer. Die
       Kommunikationsguerilleros vom Kollektiv „Peng“, die an den Protesttagen
       gerne die Berliner Partyroutinen eingestellt sehen würden und damit in
       betriebswirtschaftliche Grundlagen der Unterhaltungsindustrie eingreifen.
       Musiker wie Dirk von Lowtzow, der sich zum Jubiläum einer linken
       Tageszeitung mit der Klampfe hinstellt und „Kapitulation“ singt.
       
       Die Szene der Gegenkultur in Hamburg, die abseits der großen Glocke seit
       einer ganzen Weile schon auf lokaler Ebene gegen G 20 agitiert.
       
       Eine Gegenfigur zu den Bonos dieser Welt wäre der französische Sänger Manu
       Chao, der zwischen Kunst und Leben keinen Unterschied macht, der vor
       Zapatisten in Mexiko spielt und mit einem Wanderzirkus durch Südamerika
       reist, in Europa nur in sozial benachteiligten Vorstädten auftritt, und
       zwar – um den Medienrummel zu vermeiden – nur unter falschem Namen
       auftritt. Wenn Bono die Baumkrone ist, ist Manu Chao die Graswurzel. Der
       eine ist so fake, wie der andere real ist. Und doch wollen beide das
       Gleiche, Gutes.
       
       Pop mag im Kern das Versprechen sein, dass alles auch ganz anders, dass
       eine bessere Welt möglich ist. Ob das Versprechen leer ist, liegt nicht am
       Künstler. Wie sang John Lennon in „Revolution“ schon 1969: „We all want to
       change your head. You tell me it’s the institution? Well, you know, you’d
       better free your mind instead.“
       
       1 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Arno Frank
       
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