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       # taz.de -- Moscow International Film Festival: Die Pilzfamilie turnt im Wald
       
       > Beim 39. Moscow International Film Festival zeigt sich Russland von
       > seiner repräsentativen Seite. Und im Kinosaal wird hemmungslos
       > telefoniert.
       
   IMG Bild: Mutiger Wettbewerber: Szene aus „The Bottomless Bag“ von Rustam Khamdamov
       
       Auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe der täglichen Festivalzeitung prangt
       ein Foto vom Leiter des Moscow International Film Festival (MIFF), Nikita
       Mikhalkov. Wie ein Krake schlingt er die Arme um Jurymitglied Ornella
       Muti, die konsterniert lächelt. Doch bei einer so schönen Frau, wer kann
       oder will sich da schon beherrschen?
       
       Im Wettbewerb des 39. MIFF sind sämtliche Protagonistinnen von Männern
       erdacht, beschrieben und in Szene gesetzt: Unter den 13 gegeneinander
       angetretenen Filmen wurde ein einziger von einer Regisseurin mitinszeniert.
       
       Die drei russischen Beiträge im Wettbewerb scheinen dabei jeder auf seine
       Weise definieren zu wollen, wie das Filmland sich selbst sieht: ein Hort
       der schönen jungen Dinger, deren Ehrgeiz darauf ausgerichtet ist, einen
       amtlichen Sugardaddy für sich zu gewinnen (im sexistisch klischierten
       Hostessendrama „Buy me“ von Vadim Perelman); der betagten Babuschkas, die
       altsozialistisch-bürokratische Hürden mit Witz und Herz zu nehmen wissen
       (in der leicht angestaubten Seniorenkomödie „Frozen Carp“ von Vladimir
       Kott); und der verkopften Literaturfantasten, die der Wille zur Kunst
       umtreibt (im schwarz-weißen Bilder-Trip „The Bottomless Bag“ von Rustam
       Khamdamov).
       
       ## Humorige Fantasiewelt
       
       Letzterer gewinnt den „Spezialpreis“ der Jury und ist der ungewöhnlichste
       und mutigste der drei heimischen Teilnehmer: Während der Zarenzeit lassen
       verschiedene echte und Märchenfiguren einen Überfall Revue passieren, der
       sich im Wald abgespielt hat. Voller Referenzen an historische Bilder
       (Messinas „Sankt Sebastian“) und Filme (Fritz Langs „Die Nibelungen“,
       Eisensteins „Iwan der Schreckliche“) baut Regisseur Khamdamov eine
       opulente, haptisch starke und humorige Fantasiewelt, in der eine
       Pilzfamilie, gespielt von Männern und Kindern mit ulkig-klobigen Pilzhüten,
       zwischen den Bäumen seelenruhig Balance-Turnübungen ausführt.
       
       Elena, die Protagonistin in „Frozen Carp“, ist eine von fünf weiblichen
       Hauptrollen im Wettbewerb und hat im Leben schon einiges mitgemacht: Sie
       war bis zur Pension Lehrerin in einem Dorf, in dem nach dem Ende des
       Sozialismus die Zeit stehen geblieben ist. Weil sie ihrem entfremdeten Sohn
       nicht zutraut, ihre Beerdigung mit allem russischen Pipapo (Kartoffelsalat,
       Wodka, Fisch) auszurichten, besorgt sie sich ihren Totenschein noch zu
       Lebzeiten. Aber dann lässt Gevatter Tod auf sich warten. Stattdessen
       erwacht der gefrorene Karpfen aus dem Titel wieder zum Leben – und auch der
       Sohn taucht auf.
       
       Vadim Perelman hingegen inszeniert in „Buy Me“ eine junge Frau, der die
       Verbindung mit ihrer Familie nicht mehr wichtig zu sein scheint. Ohne dem
       Zuschauer auch nur eine Sekunde Entspannung vom heteronormativ-männlichen
       Blick auf die Ware Frau zu gönnen, erzählt er von der literarisch begabten
       Katya, die ein Literaturstipendium in Paris zugunsten eines Hostessenjobs
       in den Vereinigten Arabischen Emiraten sausen lässt und dort angesichts des
       hübschen Scheichs spontan in einen Schleiertanz ausbricht.
       
       ## In süßen Mikro-Höschen durch die Wohnung hüpfen
       
       Zurück in Russland und in einer Wohngemeinschaft mit zwei weiteren
       klassischen Magazin-Beauties, die meist in süßen Mikro-Höschen durch die
       Wohnung hüpfen, wird Katya von einem älteren Mann vergewaltigt, zitiert
       dabei Khodasevich und verliebt sich später in ihren Peiniger – so sind sie,
       die Mädchen, scheint Perelman sagen zu wollen, man muss sie halt nur zu
       nehmen wissen. Der ekelhaft frauenverachtende Film endet mit einem Drama –
       denn auch wenn junge halbnackte Mädchen schön anzuschauen sind, haben sie
       es in Perelmans Augen nicht verdient, mit dem Schrecken davonzukommen.
       
       Die Auswahl der Wettbewerbsfilme, die keinen Platz für Diversität, andere
       Hautfarben oder sexuelle Ausrichtungen findet, hat etwas Respektloses, das
       sich auch im Verhalten der an den Screenings teilnehmenden JournalistInnen
       spiegelt: Viele sind unpünktlich, bis fast zum Ende des Films drängeln sich
       NachzüglerInnen in die Mitte der Reihen, und während der Vorführungen laut
       zu telefonieren oder zumindest ununterbrochen SMS zu schreiben gehört dazu.
       
       Das WhatsApp-Pfeifen unterbricht gnadenlos elementare, intensive Szenen wie
       in „Crested Ibis“, dem Gewinner des „Goldenen St. Georg“ für den besten
       Film: In diesem schwarz-weißen beziehungsweise zementgrauen
       Roots-Searching-Drama kehrt ein Journalist aus Peking in sein Heimatdorf
       zurück, um über einen seltenen Vogel, ebenjenen „Crested Ibis“ zu berichten
       – seine alten SchulfreundInnen begegnen ihm mit einer Mischung aus Neid und
       Ablehnung, hat er doch vor einigen Jahren die Umwelt- und
       Gesundheitszerstörung durch das örtliche Zementwerk angeprangert.
       
       ## Ausgefeiltes Drehbuch
       
       Qiao Lang bietet ein klares, ausgefeiltes Drehbuch, aber keinerlei
       Filmsprache – sein Werk bleibt bildlich starr wie ein abgefilmtes
       Theaterstück.
       
       In den Nebensektionen dagegen findet sich jene Vielfalt, die die homophobe,
       repressive russische Regierung aus dem Aushängeschild Wettbewerb verbannt
       hat. Hier laufen aufregende Dokumentarfilme wie „Butterflies“ von Dmitry
       Kubasov, der eine schwule Beziehung zwischen Stadt und Land in
       wackelig-persönlicher Rosa-von-Praunheim-Manier gefilmt hat, Raoul Pecks
       Doku „I am not your negro“ oder Sebastián Lelios Trans-Liebesdrama „Una
       mujer fantástica“.
       
       Wenn das Festival seinen Wettbewerb nicht mit mehr kuratorischem Mut
       auswählt, wird es – trotz des stolzen „International“ im Titel – wohl
       provinziell bleiben müssen.
       
       2 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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