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       # taz.de -- Rechtsextreme in der Ukraine: Der Preis der Unabhängigkeit
       
       > Militante Organisationen gewinnen in der Ukraine immer mehr Einfluss auf
       > Staat und Regierung – trotz ihrer fremdenfeindlichen Vergangenheit.
       
   IMG Bild: Die ukrainischen Nationalisten blockieren immer wieder Veranstaltungen, die ihnen zu russisch sind
       
       Geduldig warten ein paar Menschen, die meisten von ihnen wohl Rentner, auf
       den Beginn der Filmvorführung im Büro der Sozialistischen Partei. Plötzlich
       drängen zwei Dutzend junge Männer in das Gebäude in der Kiewer
       Gruschewskaja-Straße gegenüber dem Parlament. „Wir sind hier, um das Gesetz
       zur Dekommunisierung durchzusetzen“, erklärt der Anführer.
       
       Die – teilweise vermummten – ungebetenen Gäste sind vom „Nationalen Corps“,
       und sie kommen sofort zur Sache: Sie reißen eine rote Fahne mit den
       Porträts der von russischen Nationalisten ermordeten russischen
       Antifaschisten Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa von der Wand. Im
       Bücherschrank finden sie nichts, was auf ihr Interesse stößt. Dann klingelt
       das Handy des Anführers – offenbar der Befehl zum Abmarsch.
       
       Erst nachdem die Männer die Tür hinter sich zugeschlagen haben, löst sich
       die Starre der Besucher. Einer greift zum Telefon und ruft die Polizei, die
       kurz darauf eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch aufnimmt. „Aber ich kann
       Ihnen versichern, die Sache wird im Sand verlaufen“, sagt eine Polizistin.
       
       Der Auftritt der rechtsradikalen Jugendlichen im Büro der Sozialistischen
       Partei ist kein Einzelfall. Verängstigten sie an diesem Tag das ältere
       Filmpublikum unter Hinweis auf ein 2015 erlassenes Gesetz, das
       kommunistische Symbolik verbietet, so versetzten sie Anfang Juni Besucher
       einer Gerichtsverhandlung in Angst und Schrecken. An jenem Tag stürmte das
       „Nationale Corps“ den Gerichtssaal bei einem Prozess gegen den
       Kriegsdienstverweigerer Ruslan Kozaba mit Rufen wie „Ruhm der Ukraine –
       Tod den Feinden“. Kozaba musste das Gebäude zur Sicherheit über einen
       Hinterausgang verlassen.
       
       ## Fremdenfeindliche Vergangenheit
       
       Mit ihren gelb-blauen Fahnen sind die jugendlichen Aktivisten des
       „Nationalen Corps“ aus dem öffentlichen Leben in der Ukraine nicht mehr
       wegzudenken. Die Organisation versteht sich als ziviler Arm des
       rechtsradikalen Freiwilligenbataillons Asow. Ihr Kommandeur Andrei Bilezkyj
       beruft sich auf Vorbilder aus den 40er Jahren: auf Roman Schuchewitsch, den
       langjährigen Oberbefehlshaber der Ukrainischen Aufständischen Armee, UPA,
       ebenso wie auf Stepan Bandera, den Chef der Organisation Ukrainischer
       Nationalisten, OUN.
       
       Gerne werde heute übersehen, so Eduard Dolinsky, der Direktor des
       Ukrainischen Jüdischen Komitees, in der New York Times, dass die OUN eine
       fremdenfeindliche, antisemitische Ideologie hatte. Sowohl OUN- als auch
       UPA-Einheiten haben sich am Holocaust beteiligt, sie ermordeten mindestens
       70.000 Polen, womöglich waren es 100.000. Nach der Annexion der Krim 2014
       war das Bataillon Asow einer der ersten Freiwilligenverbände, die in der
       Ostukraine kämpften. Die Rückeroberung der Hafenstadt Mariupol aus den
       Händen der Aufständischen im Sommer 2014 ist vor allem ihm zu verdanken.
       
       Amnesty International und Human Rights Watch werfen dem Bataillon, das seit
       November 2014 in die Nationalgarde eingegliedert ist, schwere
       Menschenrechtsverletzungen – unter anderem Folter – vor. Die von
       Asow-Kommandeur Bilezkyi ebenfalls angeführte Organisation „Patrioten der
       Ukraine“, habe noch 2008 in der Stadt Charkiw Hitlers „Mein Kampf“
       verteilt, berichtet Ewgenij Sacharow, Direktor der „Menschenrechtsgruppe
       Charkiw“.
       
       ## Kaum Unterstützung in der Gesellschaft
       
       Für Bilezkyj seien es weniger die Sprache oder das Staatsverständnis als
       die ethnische Herkunft, die einen wahren Ukrainer ausmachten, berichtet
       der Rechtsextremismusexperte Vyacheslav Likhachev.
       
       Das nach eigenen Angaben 15.000 Mitglieder zählende „Nationale Corps“ hat
       Blockaden der Krim mitorganisiert, eine Pressekonferenz des Chefs der
       inzwischen verbotenen Kommunistischen Partei, Petro Symonenko, gesprengt,
       angebliche Linksradikale [1][in Lemberg überfallen], Sitzungen des
       Stadtrates von Lemberg gestört und ein Konzert der Sängerin Swetlana Labuda
       in Odessa gesprengt. Ihr nimmt man ihre häufigen Auftritte in Russland
       übel.
       
       Auch bei der Blockade der „Volksrepublik Lugansk“ im vergangenen Winter war
       das „Nationale Corps“ ganz vorn mit dabei. Durch ihren Einsatz an der Front
       hätten diese Leute, so der Rechtsextremismusexperte Likhachev, eine
       Autorität in der Gesellschaft erlangt, dank deren sie sich das Recht
       herausnähmen, Veranstaltungen zu stören und zu verhindern. Doch während die
       Rechtsradikalen den Staat und die Regierung vor sich hertreiben, das Gesetz
       des Handelns in ihrer Hand haben, ist unklar, was die Bevölkerung insgesamt
       davon hält. „Sie haben kaum Unterstützung in der Gesellschaft“, sagt
       Ewgenij Sacharow von der Menschenrechtsgruppe Charkiw.
       
       ## Schlechte Wahlergebnisse, viel Einfluss
       
       Die Wahlergebnisse scheinen ihm recht zu geben. Der frühere Chef des
       „Rechten Sektors“, Dmitrij Jarosch, hatte bei den Präsidentschaftswahlen
       2014 nur ein Prozent erhalten, die rechtsradikale Swoboda-Partei, die noch
       2012 über zehn Prozent erhalten hatte, ist bei den letzten Wahlen an der
       5-Prozent-Hürde gescheitert.
       
       Nur Andrej Bilezkyj, der Kommandeur der rechtsradikalen „Asow“-Einheit,
       hatte bei den Parlamentswahlen 2014 im Kiewer Bezirk Obolon ein
       Direktmandat erlangen können.
       
       Trotzdem sind die Rechtsradikalen programmatisch und personell an der
       Spitze des Staates angekommen. Der Exchef des „Rechten Sektors“, Dmitrij
       Jarosch, wurde bereits Anfang 2015 zum Berater des Oberbefehlshabers der
       ukrainischen Truppen ernannt. Zweimal zeichnete ihn Präsident Poroschenko
       2016 mit hohen staatlichen Medaillen aus.
       
       ## Vorbild sind die ukrainischen Nationalisten der 40er Jahre
       
       Und Vadim Trojan, Exvizekommandeur des Freiwilligenbataillons Asow – und
       mit dem späteren Asow-Kommandeur Bilezkyj gemeinsam im Vorstand der
       „Patrioten der Ukraine“ – ist seit Februar diesen Jahres Vizeinnenminister
       des Landes. In einem sind sich Rechtsradikale und Regierung einig: Beide
       sehen sich in der Tradition der ukrainischen Nationalisten der 40er Jahre.
       Wie ein roter Faden zieht sich die Glorifizierung von OUN und ihres
       militärischen Arms UPA durch das Handeln von herrschender Politik und
       Rechtsradikalen.
       
       Der Chef des staatlichen Instituts für nationales Gedächtnis, Wladimir
       Watrowitsch, vertritt die Auffassung, dass das Symbol 14.
       Waffengrenadier-Division (auch „SS Galizien“ genannt) nicht verboten werden
       müsse. Begründung: Es handele sich nicht um ein Symbol des
       nationalsozialistischen totalitären Regimes. Tatsächlich war die SS
       Galizien eine Division bei der Waffen-SS, die 1943 mit ukrainischen
       Freiwilligen und sogenannten Volksdeutschen aufgestellt wurde.
       
       ## Vielen Anhängern ist die rechte Ideologie nicht bekannt
       
       Im September 2016 hat der israelische Präsident Reuven Rivlin bei seinem
       Besuch an der Kiewer Gedenkstätte für den Massenmord in der Schlucht von
       Babi Jar ukrainische Nationalisten, insbesondere die Kämpfer der OUN, als
       Helfershelfer der Morde der Nazis verantwortlich gemacht.
       
       Wie groß ist die Gefahr, die von den Rechtsextremen in der Ukraine heute
       ausgeht? Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen: Es sei nicht
       richtig, allen Anhängern von Asow zu unterstellen, dass sie für einen
       imperialistischen totalitären Nationalismus seien, nur weil sie
       Schuchewitsch und Bandera als Vorbild hätten, sagt etwa Likhachev, der in
       Jerusalem lebende Herausgeber des im Juni erschienenen Buches „Vom Maidan
       nach rechts“.
       
       Den meisten ihrer Anhänger sei nicht einmal deren Ideologie bekannt. Vielen
       sähen in ihr nur eine Gruppe, die den Willen der Ukrainer nach
       Unabhängigkeit symbolisiert. Der „Rechte Sektor“ sei 2014 auf den Maidan
       mit der Forderung gegen eine Integration in Europa gegangen. Das Gegenteil
       davon sei jedoch erreicht worden. Auch ihre homophoben Vorstellungen
       könnten die Rechten nicht umsetzen. Staatsführung und Gesellschaft hätten
       im letzten Jahr deutlich gezeigt, dass man auch gegen rechte Drohungen
       einen LGBT-Marsch durch die Stadt durchführen könne.
       
       Evgenij Sacharow, der Chef der Menschenrechtsgruppe Charkiw, hält es für
       richtig, Rechtsradikale einzubinden. Er sei dagegen gewesen, das Bataillon
       Asow in die staatlichen Strukturen einzubinden. Doch nun denkt er, es sei
       gut gewesen: Nur so könne man es kontrollieren.
       
       Nina Potarskaja vom „Zentrum für soziale und arbeitsrechtliche Studien“
       hingegen sieht in dem aggressiven Auftreten von rechtsradikalen Gruppen
       eine sinkende Schwelle zur Gewalt gegen Andersdenkende. Diese Gewalt würde
       von der Polizei stillschweigend akzeptiert. Potarskaja: „Noch vor ein paar
       Jahren hätten wir uns nicht vorstellen können, dass man strafrechtlich zu
       verfolgende Handlungen begehen kann und gleichzeitig weiß, dass man dafür
       nicht bestraft wird. Ja, mehr noch: Man kann davon ausgehen, dass die
       Gesellschaft diese Gewalt sogar unterstützt.“
       
       13 Jul 2017
       
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