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       # taz.de -- Folgen des EU-Austritts: Brexit-Grenze im Fluss
       
       > Wenn Großbritannien die EU verlässt, bleibt ein Teil Irlands drin, der
       > andere nicht. Das Dorf Pettigo liegt in beiden Teilen. Was wird aus ihm?
       
   IMG Bild: Ein Rinnsal, aber mit tieferer Bedeutung: Der Termon teilt einen 600-Einwohner-Ort zwei Staaten zu
       
       Pettigo und Tullyhommon taz | Der Termon Complex gehört eigentlich nicht
       hierher. Er ist zu groß. Die Fassade unter ausladendem Betondach ist
       gläsern; wenn man durch die Automatiktür tritt, sitzt in einer Halle ein
       Mann an einem Tresen. PJ Mc Barron, gerade kritzelt er in seinen Kalender.
       
       Der Complex steht in Pettigo, auf Irisch Paiteagó, einem 600-Einwohner-Ort
       an der inneririschen Grenze. Der Fluss Termon, nach dem der Bau benannt
       ist, ist ein Rinnsal, doch er teilt Pettigo: Die eine Hälfte ist in
       Donegal, Grafschaft der Republik Irland, die andere, die offiziell
       Tullyhommon heißt, liegt in der nordirischen Grafschaft Fermanagh. Zu
       beiden Ufern stehen die Häuser dicht am Wasser, das Efeu rankt.
       
       „Der Komplex ist eine Art Gemeindezentrum“, sagt PJ, „die Europäische Union
       hat 8,3 Millionen Euro beigesteuert“. Insgesamt hat die EU seit 1995 1,3
       Milliarden Euro für Friedensprojekte in den Regionen entlang der 499
       Kilometer langen Grenze ausgegeben.
       
       „Das Zentrum steht allen Menschen offen“, sagt der 56-jährige PJ. Er stammt
       aus Pettigo, hat ein paar Jahre in London gearbeitet, doch als der Termon
       Complex vor drei Jahren eröffnete, kehrte er zurück und bekam hier einen
       Job. Seine drei Töchter leben weiter in London, der 19-jährige Sohn wohnt
       bei ihm und seiner Frau Eimhear, die im Termon Complex die Gastronomie
       führt.
       
       Mit seinem Bart, dem kahlen Kopf und den Tattoos von Marilyn Monroe, John
       Wayne und Jesus wirkt PJ ein wenig furchteinflößend. Das täuscht. „Ich bin
       froh, dass es in unserem Ort nie Ärger zwischen der katholischen und der
       protestantischen Gemeinde gab“, sagt er. „Auch nicht in den heißen Zeiten
       der Troubles.“ Troubles – so nennt man in Nordirland den Konflikt, der fast
       3.500 Menschen das Leben gekostet hat.
       
       ## IRA sprengte das Postamt
       
       Der Doppelort ist klein, aber er hat Denkmäler für den Krimkrieg, den
       Ersten Weltkrieg, den irischen Unabhängigkeitskrieg – und vier Kirchen:
       Anglikaner und Katholiken gehen in Pettigo in der Republik Irland zur
       Messe, Methodisten und Presbyterianer in Tullyhommon im Vereinigten
       Königreich. „Sonntags herrscht reger Fußgängerverkehr auf der Brücke“, sagt
       PJ.
       
       Die Hauptstraße, die über die Brücke führt, war während des gewaltsamen
       Konflikts die einzige Verbindung zwischen beiden Ortsteilen. Die anderen
       Straßen wurden 1972 mit Betonklötzen versperrt. Zudem sprengte die
       britische Armee alle anderen Brücken, um die Bewegungen der
       Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu beschränken. Pettigo war von seinem
       Hinterland im Norden abgeschnitten. Erst mit dem Friedensprozess Ende der
       90er Jahre wurden die Straßen wieder geöffnet, die Brücken repariert.
       
       Am Ende der Brücke steht eine Baracke, früher das Zollhaus. Morgens stellte
       der Zöllner ein Stoppschild auf, abends legte er es in die Baracke und ging
       heim. Das wussten die Schmuggler. „Pettigo war berühmt dafür“, erzählt PJ.
       „Vieh, Mehl und Butter wurden von Nord nach Süd geschmuggelt, Zigaretten
       und Alkohol in die umgekehrte Richtung. Heutzutage haben die Rinder
       Ohrmarken, und die Preise für Zigaretten und Alkohol unterscheiden sich
       kaum.“
       
       Auch Bombenanschläge gab es, sagt PJ. „Mervyn Johnstons Werkstatt gleich
       hinter der Brücke im Norden wurde von der IRA fünf Mal bombardiert, weil
       Mervyn bei der britischen Armee war.“ Das Postamt der Royal Mail sprengte
       die IRA 1973 in die Luft, es zog in eine Seitenstraße um. Im südirischen
       Teil, drei Minuten Fußweg, gibt es natürlich auch ein Postamt, denn
       Briefmarken aus Tullyhommon gelten nicht in Pettigo. Und umgekehrt. Bei der
       Währung ist man flexibler, die Geschäfte und Pubs nehmen Pfund wie Euro.
       
       Die Zeit der Anschläge ist zum Glück vorbei. Der Ort habe sich etwas
       erholt, „der Termon Complex hält Pettigo und Tullyhommon am Leben. Wir
       haben hier Sportplätze, ein Fitnessstudio, einen Kindergarten mit
       Spielplatz, Konferenzräume und einen Konzertsaal, wo schon viele berühmte
       irische Künstler aufgetreten sind.“
       
       Der Lough Derg trage übrigens auch etwas zur Wirtschaft bei. Der See mit
       seinen 19 Inseln liegt vor den Toren Pettigos. Eine der Inseln heißt
       Station Island, hier hatte St. Patrick, Irlands Schutzheiliger, im 5.
       Jahrhundert der Überlieferung nach eine Vision des Fegefeuers. Seit dem 6.
       Jahrhundert ist die Insel ein Wallfahrtsort. 25.000 Pilger kommen im Sommer
       barfuß auf die Insel, um drei Tage lang zu fasten. In der ersten Nacht
       dürfen sie nicht schlafen. „Früher haben die Pensionen mehr von den Pilgern
       profitiert“, sagt PJ. „Aber das ist zurückgegangen, seit die Leute 75 Euro
       fürs Fasten zahlen müssen. Diese Pilgerei ist total kommerzialisiert
       worden“, schimpft er.
       
       Was der Brexit für Pettigo bringt, weiß PJ nicht. „Es kann positiv oder
       negativ sein, ich habe keine Ahnung. Ich glaube aber nicht, dass sie die
       Grenze wieder dicht machen. Das will niemand.“ Vielleicht werde es
       Zollkontrollen geben, „und vielleicht blüht dann auch der Schmuggel
       wieder“.
       
       Natascha McGrath, eine Bauerntochter, ist pessimistisch. Die 44-Jährige
       arbeitet auch im Termon Centre. Außerdem ist sie im Vorstand eines Vereins,
       der versucht, den Doppelort zu entwickeln, den Jungen eine Perspektive zu
       bieten. „Aber es gibt keine Arbeit hier“, sagt sie. „Die jungen Leute hauen
       ab. Viele gehen nach Australien. Menschen zwischen 18 und 30 sind rar in
       Pettigo.“
       
       McGrath ist wie PJ in Pettigo geboren. Sie ist immer geblieben. Von ihren
       Eltern hat sie den stillgelegten Bahnhof geerbt und ihn für 150.000 Euro
       renoviert. Den Wartesaal, den sie zu einer Wohnung umbauen ließ, hat sie
       vermietet. „Früher war Pettigo ein wichtiger Marktflecken an der
       Hauptstraße zwischen Enniskillen und Derry, Nordirlands zweitgrößter
       Stadt“, sagt sie. „Dann kam 1922 die Teilung Irlands, und als die Bahnlinie
       1957 geschlossen wurde, ging es weiter bergab.“
       
       McGrath, eine sportliche Frau mit kurzem Haar, trägt das Trikot des
       Gaelic-Football-Teams aus der Grafschaft Donegal, Republik Irland. Sie hat
       zwei Söhne, 15 und 16. „Sie gehen in Nordirland zur Schule und nehmen jeden
       Morgen den Bus.“ McGrath fragt sich, ob die beiden nach dem Brexit auf der
       Schule bleiben dürfen.
       
       Der Brexit habe schon jetzt Auswirkungen, findet sie. „Weil der Pfundkurs
       nach dem Referendum im Juni 2016 gefallen ist, kommen die Leute aus dem
       Norden nicht mehr zum Tanken nach Pettigo.“ Die beiden Geschäfte im Ort
       bekommen das zu spüren, auch die Pubs. „Samstag abends um elf sitzen
       vielleicht zwei oder drei Leute im Wirtshaus.“
       
       Nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU werden es die
       wenigen kleinen Unternehmen schwer haben, glaubt sie: „Was soll zum
       Beispiel aus der Firma in Pettigo werden, die Holzspäne an Gartencenter in
       Nordirland liefert? Zwar hört man, dass es keine geschlossene Grenze geben
       soll, aber die EU wird es Großbritannien nicht leicht machen.“ Mehr als die
       Hälfte der Exporte aus Nordirland geht in die EU, davon zwei Drittel in die
       Republik Irland.
       
       McGrath erinnert sich gut an die Zeit des Konflikts. „Es war ein Albtraum“,
       sagt sie. „Die nächstgelegene Stadt ist Kesh, keine acht Kilometer entfernt
       auf der anderen Seite der Grenze. Wenn man zum Einkaufen hinfuhr, wurde man
       oft zwei oder drei Mal von der Armee kontrolliert. Es war reine Schikane,
       man wusste nie, wie lange man für die kurze Strecke brauchen würde.“
       
       ## 78 Prozent gegen Brexit
       
       McGrath sorgt sich um das Friedensabkommen von 1998, zumal die Tories unter
       Premier Theresa May einen Regierungspakt mit der
       protestantisch-unionistischen Democratic Unionist Party geschlossen haben.
       Die warb als einzige nordirische Partei für den Brexit. Trotzdem stimmten
       rund 56 Prozent der 1,85 Millionen Nordiren 2016 für den Verbleib in der
       EU, in den Grenzgebieten bis zu 78 Prozent. „Fest steht, dass wir nicht
       mitreden dürfen, wie die Grenze aussehen soll“, sagt McGrath.
       
       Direkt an dieser Grenze, auf der Südseite, liegt Britton’s Bar, seit 1860
       in Familienbesitz. Tritt man aus der Hintertür, steht man im Grenzfluss.
       Triona Britton führt die Bar mit ihrem Bruder Pat. Auch sie erinnert sich,
       wie mühsam es während des Konflikts war, von der einen Seite auf die andere
       zu gelangen. Nun sind die Straßen offen, doch von einer Friedensdividende
       sei nichts zu spüren. „Seit der Öffnung der Straßen und Brücken ist unser
       Geschäft zurückgegangen. Die Leute können ja jetzt problemlos überallhin
       fahren.“
       
       Sie glaubt, Brüssel werde dafür sorgen, dass die Regierung in Dublin die
       neue EU-Außengrenze streng kontrolliert. Britton’s Bar liegt in der
       Republik Irland, Triona aber wohnt in Tullyhommon, Vereinigtes Königreich.
       „Vielleicht muss ich dann nach Pettigo ziehen“, sinniert sie. „Ich habe
       keine Lust, mich auf dem Weg zu unserem Pub wie früher ständig
       kontrollieren zu lassen – diesmal von irischen Soldaten.“
       
       22 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
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