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       # taz.de -- Ex-RAFler Dellwo antwortet auf Mescalero: „Hier explodiert etwas vom Leben“
       
       > Karl-Heinz Dellwo, ehemaliges RAF-Mitglied und jetzt Verleger, antwortet
       > auf linke Kritik, laut der er autonome Gewalt beim G20-Gipfel
       > glorifiziere
       
   IMG Bild: Riots in der Sternschanze: obszöner Auftritt von Uniformierten oder ein Ereignis, in dem eine Wut gegen die herrschenden Verhältnisse explodiert?
       
       In der taz vom 14. Juli 2017 [1][schreibt Klaus Hülbrock in einem Artikel]
       mit der Bildüberschrift: „Die Vermummung ist der Wichs der Krawallisten.“
       Das „Mescalero“-Kostüm war Jahrzehntelang die Vermummung des Klaus
       Hülbrock.
       
       Hülbrock bezeichnet Texte von mir als „Kampftexte“ und greift mich auf eine
       persönliche Art und Weise an, die sich beim sprachlichen Reservoir des
       Wirtshausschlägers bedient: „Idiot“ und „Halt endlich die Klappe Dellwo“.
       Ich kenne Hülbrock nicht und er mich auch nicht – woher also dieser Affekt
       und dieser herrische Anspruch? Aber Hülbrock meint ja nicht nur mich oder
       die RAF, die es auch nicht mehr gibt, sondern führt im Stil eines
       misanthropischen Austeilers eine Tirade gegen die, die er die
       „Krawallisten“ nennt, ausgestattet mit „Hirnblockaden“, „Hässlichkeit“ und
       „dumm“ sind sie sowieso, und so weiter.
       
       Der ganze Text ist nur gekennzeichnet von Abwehr und Draufschlagen. Da
       fühlt sich jemand belästigt von den Ereignissen in der Gesellschaft und
       tritt um sich. Die Unwahrheit seiner Äquidistanz suggerierenden Behauptung,
       dass die oben und unten gleich sind, erkennt man schon daran, dass Hülbrock
       den Riot brauchte, um sich zu äußern. Die „Herrschaften“, sprich die
       Ausrichter und Teilnehmer des G20-Gipfels, die er als „nicht weniger
       obszön“ bezeichnet, waren ihm alleine kein Grund in der Vergangenheit, sich
       dermaßen affektiv zu äußern.
       
       Das ist auch die Unwahrheit der taz, die dieses Pamphlet goutiert, groß
       auf Seite 1 ankündigte und auf Seite zwei in einer Art unfreiwilligem Humor
       als „schwarzen Block“ setzte. Wo ist die Positionierung gegen die
       „Obszönität“ der „Herrschaften“ in der taz, also das grundsätzlich
       Systemoppositionelle? Ebenso die Süddeutsche Zeitung: [2][In einem
       Kommentar] greift Willi Winkler Hülbrocks Denunziationsvokabel „Kampftext“
       auf und behauptet wahrheitswidrig, dass ich den Riot „bejubelt“ hätte.
       
       ## Das Kollektive als Explosion
       
       Ich habe am 7. Juli [3][einen reflektierenden Bericht] geschrieben nach dem
       brutalen Polizeieinsatz zu Beginn der „Welcome to Hell“-Demo, einen Bericht
       über die gute Stimmung zu Anfang auf der Demo und der dann eskalierenden
       Entwicklung.
       
       Der [4][zweite Text] datiert vom 10. Juli, nach der Nacht im
       Schanzenviertel. Der Inhalt dieses Textes ist, grob zusammengefasst, das
       Konstatieren dessen, dass in einer uniformen Welt der Antagonismus, also
       das Reale und das grundsätzlich Andere, wie verschwunden scheint. Eine Welt
       voller Ereignisse, aber ohne sozialen Sinn. Die Vergesellschaftungsprozesse
       im global gewordenen Kapitalismus sind räumlich und zeitlich so
       allumfassend, dass das Individuum nicht mehr über sich hinauskommt,
       isoliert und alleine bleibt und offenkundig zum neuen Kollektiv zur
       Herstellung einer grundsätzlich anderen Lebensgrundlage derzeit nicht fähig
       ist.
       
       Das Kollektive kommt nicht als bewusstes Handeln, sondern nur in seiner
       bewusstlosen Form, hier als Explosion zur Geltung. Das ist der Riot. Es
       geht in dem Text um nichts anderes als um einen Versuch, zu verstehen, was
       dort gerade abgelaufen ist, und die Frage, was das Detail über das
       gesellschaftliche Ganze aussagt.
       
       Aus diesem Grunde habe ich mich gegen das Distanzierungsverlangen gestellt,
       dass nun überall auftritt, weil dieses Distanzieren die Möglichkeit des
       Erkennens blockieren will. Bevor etwas verstanden wird, wird über die
       moralische Empörung schon die Endstufe der Auseinandersetzung mit den
       Ereignissen definiert. Das ist Herrschaftspolitik: Das Herstellen einer
       Situation des Bekenntniszwangs und der Druck zur staatstreuen Konformität.
       Das ist auch nichts anderes als das, was staatlicherseits derzeit in der
       Türkei läuft.
       
       ## Gewalt als bildmächtiger Ausdruck des Scheiterns
       
       Im Distanzierungs- und Bekenntniszwang geht es um die Hegemonie der
       Vermittlung, also um Herrschaft und die etablierte Ordnung, die allerdings
       zum G20-Gipfel massenhaft, nicht nur durch die Militanten, infrage gestellt
       wurde. Ihr G20-Gipfel ist gescheitert. Er war es schon von vorneherein.
       Denn diejenigen, die sich in Hamburg als politische Kaste versammelt haben,
       sind unfähig, irgendetwas anderes als die Verlängerung des derzeitigen
       Zustandes der Welt zu verfolgen.
       
       Die gewalttätigen Ereignisse sind nicht die Ursache des Scheiterns dieses
       Gipfels. Sie sind nur der bildmächtige Ausdruck dessen. Und die Wahrheit
       dieses Ausdruckes ist den Herrschenden unerträglich, weil er sie auf ihren
       Hegemonieverlust hinweist und dort die Sorge entstehen lässt, dass sie
       durchweg von denen, die sie befehlen, als das erkannt werden, was sie
       inzwischen sind: als die Knechte von längst verselbständigten Prozessen in
       der Welt, als die also, die uns nichts mehr zu sagen haben.
       
       Das, was Politik wäre, existiert nicht und das Leben, das sie uns im Konsum
       verheißen, ist es ebenso davon durchzogen, dass es auf der falschen
       Grundlage steht. Politik von ihrer Aufgabe her war die Organisierung eines
       guten Lebens. Gutes Leben heißt: materielle Bedürfnisbefriedigung und das
       Ermöglichen der Entfaltung des subjektiven Potenzials des Menschen,
       individuell oder kollektiv. Wer aber über die Prozesse in der Welt nicht
       mehr verfügt, verfügt auch nicht mehr über die Politik.
       
       Das ist, in grober Kürze, die Lage, über die wir uns zu verständigen
       versuchen sollten. Der militante Widerspruch und der Riot sind Äußerungen
       dazu, ob sie klug sind oder nicht, spielt an dieser Stelle keine Rolle.
       Hier explodiert etwas vom Leben, das gegen seine andauernde Zurichtung sich
       selbst noch nicht völlig verloren hat. Wohl aber spielt eine Rolle, in
       wessen Händen die reale Macht liegt. Die Behauptung, dass die, die in
       bestimmten Situationen zur Militanz greifen, und die, die die ganze Macht
       des Systems in ihren Händen haben und damit andauernd die Verhältnisse
       absichern, gleich sind, ist nur Ausdruck einer korrumpierten Mittelschicht,
       die sich, solang es ihr noch einigermaßen gut geht, von denen belästigt
       fühlt, die den Diebstahl an Leben nicht mehr ertragen.
       
       18 Jul 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5426526/
   DIR [2] http://www.sueddeutsche.de/politik/profil-mescalero-1.3587573
   DIR [3] http://non.copyriot.com/zu-den-vorfaellen-anlaesslich-der-wellcome-to-hell-demo/
   DIR [4] http://non.copyriot.com/zum-riot-im-schanzenviertel-nicht-distanzieren/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karl_Heinz Dellwo
       
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