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       # taz.de -- Die Wahrheit: Glimmender Hass
       
       > Rasanter Einsatz für die Medienfeuerwehr mit ihren Datenschutzanzügen:
       > Ein Besuch in Facebooks neuem Berliner Löschzentrum.
       
   IMG Bild: Facebooks neuer Löschtrupp „Rescue and Fire“ (RAF)
       
       Es war eine kleine Sensation: Vergangene Woche öffnete Facebook sein
       streng geheimes Löschzentrum erstmals für die Presse – allerdings nur für
       einen begrenzten Zeitraum, für ausgesuchte Berichterstatter und unter
       rigiden Sicherheitsauflagen. Das soziale Netzwerk, das weltweit seit Kurzem
       zwei Milliarden Teilnehmer hat, wollte der deutschen Öffentlichkeit damit
       zeigen, dass es hinter den Mauern seiner Festung eine ganze Menge zu
       verbergen hat.
       
       Wie gut es dem Unternehmen bislang gelungen ist, seine Heimlichtuerei zu
       verheimlichen, erweist erst der Blick hinter die Fassade. Das frisch
       bezogene Gebäude, eine fünfstöckige alte Feuerwache in der Berliner
       Siemensstadt, tarnt sich geschickt als modernes Bürohochhaus, das man im
       selben Augenblick, in dem man es sieht, schon vergessen hat. Seine Insassen
       maskieren sich als Angestellte der Bertelsmann-Tochter Arvato, die man
       ebenfalls immer wieder gern vergisst.
       
       Draußen darf nach Belieben fotografiert werden, drinnen keinesfalls. Genau
       wie die anderen Reporter von renommierten Blättern und Sendern müssen alle
       Mitglieder unseres Teams daher Handy, Kamera und eigene Meinung an der
       Rezeption abgeben. Immerhin verwaltet der Konzern das Privatleben von über
       30 Millionen Deutschen und kann es sich nicht leisten, auch nur einen
       dieser leicht entflammbaren Datensätze in fremde Hände gelangen zu lassen,
       jedenfalls nicht umsonst.
       
       ## Brandherde auf Bildschirmen
       
       Nachdem wir aus Gründen des Datenschutzes in die bereitgestellten
       Datenschutzanzüge geschlüpft sind, lässt man uns endlich in die
       Kommandozentrale ein. Etwa dreißig Mitarbeiter bevölkern den großzügig
       geschnittenen Raum mit dem Facebook-Logo an der Wand. Die Hälfte von ihnen
       sitzt hochkonzentriert vor Überwachungsmonitoren, um den unentwegten Strom
       der Postings und Kommentare, die in rasantem Tempo über die Schirme
       flimmern, auf mögliche Brandherde hin zu sichten. Die andere Hälfte liegt
       erschöpft auf Pritschen herum, um sich von der nervenzehrenden
       Rettungsarbeit zu erholen.
       
       Ehe wir sie jedoch mit Fragen nach ihren Löschkriterien und
       Arbeitsbedingungen löchern können, eilen zwei lächelnde Manager im feinen
       Zwirn auf uns zu und schmettern uns ein herzliches „Was machst du gerade?“
       entgegen. Merkwürdig: Von ihnen erhalten wir erst recht keine Antworten,
       stattdessen bombardieren sie uns ihrerseits mit bohrenden Fragen: „Was ist
       dein Lieblingsessen?“, „Was ist dein Lebensmotto?“, „Wo möchtest du gerne
       hinreisen?“
       
       Während die Kollegen von den seriösen Medien noch überaus intensiv über ihr
       Lebensmotto nachgrübeln, geht mit einem ohrenbetäubenden Schrillen die
       Feuerglocke los. Auf einem oberbayerischen Facebook-Profil hat jemand
       versäumt, seine Zigarette richtig auszudrücken. Die Kontrolleure rennen zu
       dem entsprechenden Monitor; zwei Löschprofis springen von ihrer Pritsche
       auf, stülpen sich rasch die Helme über den Kopf und schwingen sich an der
       digitalen Rutschstange in der Mitte des Raums abwärts in die Timeline des
       fahrlässigen Nutzers.
       
       Obwohl uns die Security davon abzuhalten versucht, rutschen wir ins
       Ungewisse hinterher. Die Rauchentwicklung unten ist infernalisch, von
       Transparenz keine Spur. Dicke schwarze Schwaden dringen bereits in 400
       befreundete Accounts, aus denen im Sekundentakt Protestnachrichten und
       Wut-Emojis eintreffen. Vereinzelt wird der Brandverursacher aus Oberbayern
       von seinen Freunden schon deabonniert oder sicherheitshalber geblockt.
       
       ## Explosion von Hassbildern
       
       Nach wenigen Minuten, in denen sie sich durch einen Dschungel von
       Urlaubsfotos und Sinnspruch-Memes zu kämpfen haben, können die beiden
       Feuerwehrleute den Schwelbrand lokalisieren: Auf einem typischen „Guten
       Morgen!“-Foto mit Kaffeetasse hat die glimmende Kippe eine danebenliegende
       Zeitung angesteckt und damit einigen Hass entfacht. Das Problem: Die
       Flammen drohen auf eine benachbarte Sammlung von Hitlerporträts und
       Enthauptungsvideos überzugreifen. Wenn sie explodiert, dürfte Facebook für
       Stunden lahmgelegt sein – und eine Millionenschar von Mitgliedern jeden
       Lebenssinn verlieren.
       
       Die beiden Profis halten den Brand mit ihren Handfeuerlöschern zwar eine
       Weile in Schach, müssen sich angesichts der furchtbaren Bilder von Führer
       und IS-Fusselbärten jedoch zwischendurch immer wieder übergeben. Mit
       letzter Kraft gelingt es ihnen, Hilfe herbeizurufen: ein vierköpfiges Team
       mit schwerem Löschgerät sowie einem Diplompsychologen, die den Brand und
       etwaige Traumata nach halbstündigem Ringen unter Kontrolle kriegen und
       restlos löschen.
       
       Als wir anschließend rußgeschwärzt und ermattet in die Kommandozentrale
       zurückkehren, ist uns klar geworden: Diese mutigen Frauen und Männer retten
       wirklich Leben, aber die grauenhaften Umstände, unter denen sie dies tun,
       sollten weiterhin unbedingt geheim bleiben. Der Preis, den wir für diese
       Erkenntnis zahlen – jeweils eine dreimonatige Facebook-Sperre und damit die
       komplette soziale Isolation –, erscheint uns nicht zu hoch.
       
       19 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mark-Stefan Tietze
       
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