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       # taz.de -- Rachel Kushners Roman „Telex aus Kuba“: Vertreibung von der Schatzinsel
       
       > Am Vorabend der kubanischen Revolution: „Telex aus Kuba“ der
       > Schriftstellerin Rachel Kushner ist ein vielschichtiges
       > Gesellschaftsporträt.
       
   IMG Bild: Rachel Kushners Mutter wuchs in den fünfziger Jahren mit ihrer Schwester in Nicaro auf
       
       Nach „Flammenwerfer“, Rachel Kushners vielbeachtetem Roman über die New
       Yorker Künstlerboheme der 1960er Jahre, liegt nun mit „Telex aus Kuba“ auch
       das überraschende Erstlingswerk der US-amerikanischen Autorin in deutscher
       Übersetzung vor.
       
       Zentrale Schauplätze dieser in den USA 2008 veröffentlichten und dort für
       den National Book Award nominierten Erzählung sind die zwei
       US-amerikanischen Enklaven Preston und Nicaro im äußersten Osten Kubas
       während der 1950er Jahre. In Preston lebten die von der United Fruit
       Company entsandten US-amerikanischen Angestellten in luxuriösem Ambiente
       und versorgt von zahlreichen Hausangestellten. In der Freizeit vergnügte
       man sich im Pan-American-Club, auf dem Golfplatz oder am Swimmingpool.
       
       Etwas bescheideneren Wohlstand genossen die US-Ingenieure der Nickelmine im
       benachbarten Nicaro. Am Rande dieser Welt ohne Mangel lebten die
       Tagelöhner, Zuckerrohrschneider und Minenarbeiter mit ihren Familien in
       provisorischen Barackendörfern.
       
       Vor diesem historischen Hintergrund fächert der Roman ein weit verzweigtes
       Netz von Personen und Hierarchien auf. Darin beschreibt Kushner, deren
       Großvater selbst als Ingenieur in den fünfziger Jahren für die US-Mine in
       Nicaro gearbeitet hatte und deren Mutter dort mit ihrer Schwester
       aufgewachsen war, den Alltag und die Funktionsweise der beiden auf
       kolonialer Ausbeutung gründenden Unternehmen vor allem aus der
       unvoreingenommen beobachtenden Perspektive der Kinder.
       
       Doch kündigt sich bereits auf den ersten Seiten des episch angelegten
       Romans das Ende der für die US-Bewohner paradiesischen Zustände an. Denn
       die kubanischen Rebellen haben die Zuckerrohrfelder rund um Preston in
       Brand gesetzt und die Wasserleitungen gekappt. So begreift der
       dreizehnjährige K. C., Sohn des Plantagendirektors, sofort, dass die
       Situation außer Kontrolle geraten ist, als er zum ersten Mal seinen Vater
       nicht akkurat gekleidet und ohne Chauffeur im Buick davonrasen sieht.
       
       ## Schwärmen für den anmutigen Hausdiener
       
       Bevor die etwas eigentümliche rothaarige Everly Lederer mit ihrer Familie
       aus den USA in Nicaro eintraf, vermutete sie, dort eine Art grüne
       Schatzinsel vorzufinden. Später schwärmt sie heimlich für den anmutigen
       haitianischen Hausdiener der Familie, Willy Bloussé, und weicht fortan
       nicht mehr von seiner Seite.
       
       Mit den Augen von K. C. und Everly wirft die 1968 geborene Schriftstellerin
       den Blick auf die US-amerikanische Kolonie, die Klassengesellschaft und den
       sorgenfreien Alltag in den Tropen. Selbstverständlich nehmen die beiden
       Kinder den Rassismus, die Ignoranz und die Lügen in ihrem Umfeld wahr, doch
       bewegen sie sich in dieser überschaubaren Welt jenseits der Erwachsenen
       unabhängig und nach eigenen Regeln.
       
       „Die amerikanischen Kinder und Jugendlichen, die in der Avenida wohnten,
       durften Preston eigentlich nicht verlassen und schon gar nicht ins Batey
       der Zuckerrohrschneider gehen. Ich glaube, das war Firmenpolitik. Innerhalb
       Prestons durften wir überallhin. Jenseits der Ortsgrenzen riskierten wir
       Ärger. Aber Hatch Allens Sohn Curtis Junior und ich gingen andauernd ins
       Batey. Wir waren Jungs und von Natur aus neugierig.“
       
       ## In politische Konspirationen verstrickt
       
       Der gesellschaftlichen Enge und dem familiären Ambiente in Preston und
       Nicaro setzt Kushner mit der Figur der undurchsichtigen, in politische
       Konspirationen verstrickten Nachtclubtänzerin Rachel K. ein Gegengewicht.
       In ihrem Separée im Cabaret Tokyo in Havanna empfängt sie sowohl den
       Franzosen La Mazière, Ex-Mitglied der SS-Waffen-Division Charlemagne, als
       auch die Brüder Castro. Sie ist die Geliebte des gestürzten kubanischen
       Präsidenten Carlos Prío, trifft aber auch dessen Widersacher, Diktator
       Batista.
       
       Sechs Jahre schrieb Rachel Kushner an „Telex aus Kuba“. Während dieser Zeit
       reiste sie mehrfach zur Recherche auf die karibische Insel. In ihrem Roman
       beschreibt sie detailreich und lebendig die historischen Verhältnisse, die
       schließlich zum Sturz des Batista-Regimes und dem Ende US-amerikanischen
       Präsenz auf Kuba führten. Literarisch entwickelt Kushner darin zugleich
       ihre eigene Erzählung.
       
       Vor Kurzem noch hatte Del, der ältere Sohn des United-Fruit-Managers Stites
       und K. C.s Bruder auf dem Titelfoto für das Firmenmagazin „Unifruitco“
       posiert, doch nun war er verschwunden, um sich den kubanischen Rebellen
       anzuschließen. Nach diesem für die Stites peinlichen Vorfall wird sein
       Freund Philip Mackey vorsorglich von der Familie auf ein Internat in die
       USA geschickt, während Pamela, eine der Carrington-Zwillinge, sich in K.
       C.s kubanischen Boxtrainer verliebt.
       
       Die alte Ordnung ist in Auflösung begriffen, und auf der letzten Party im
       Pan-American Club muss K. C. feststellen: „An jenem Abend war nur eine von
       den Zwillingsschwestern anwesend. Die andere war mit Luís Galindez
       durchgebrannt. Eigentlich kamen die Schwestern immer zusammen nach Preston,
       gleich gekleidet, in tiefem Einverständnis miteinander. Als ich nur die
       eine sah, beschlich mich so ein Gefühl, als gerate jetzt alles ins Wanken.“
       
       23 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
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