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       # taz.de -- 150 Jahre „Das Kapital“: Der beste Rohbau aller Zeiten
       
       > Die Marx-Exegese füllt Bibliotheken. Ist nicht längst alles gesagt? Nach
       > 150 Jahren ist „Das Kapital“ kein neues, aber ein anderes Buch.
       
   IMG Bild: Er lässt sich immer wieder neu entdecken
       
       Alfred Schmidt (1931–2012) lehrte Philosophie und Iring Fetscher
       (1922–2014) Politikwissenschaft in Frankfurt. Beide stellten die
       Auseinandersetzung mit Marx schon im garstigen Klima des Kalten Kriegs auf
       ein Niveau jenseits des ideologischen Grabenkriegs: Fetscher mit seinen
       „Marxismusstudien (1954–1972) sowie seiner „Marx-Engels Studienausgabe“
       (1966) und Schmidt mit seiner bahnbrechenden Dissertation „Der Begriff der
       Natur in der Lehre von Karl Marx“ (1962), die Bibliotheken wohlfeilen
       liberal-sozial-ökologischen Geredes an Substanz und Haltbarkeit weit
       übertrifft.
       
       Zum 100. Jahrestag der Publikation des ersten Bandes des „Kapitals“
       (September 1967) sagte Alfred Schmidt auf einer Tagung: „Hundert Jahre nach
       Erscheinen des ersten Bandes des Marx’schen ‚Kapitals‘ sind die
       Schwierigkeiten, dieses Werk angemessen zu beurteilen, nicht geringer
       geworden; sie haben eher zugenommen.“
       
       Heute, fünfzig Jahre später, hat sich das geändert. Im Wesentlichen aus
       zwei Gründen. Erstens widmete sich die Marxforschung in den 1970ern
       intensiv Fragen der Marx’schen Methode, was zu einem erheblich besseren
       Verständnis seines Werks beigetragen hat. Bei Marx selbst finden sich nur
       wenige Stichworte zu seiner Methode. Der Gang der Reflexion über Marx’
       Methode ist hier nicht nachzuzeichnen.
       
       Der Kern der Debatte drehte sich darum, warum Marx sein Werk mit dem
       abstrakten Begriff „Ware“ beziehungsweise der Realabstraktion Geld beginnt,
       das jede Ware gleich und verfügbar macht. Adorno bezeichnete diese Analyse
       als „ein Stück großer Philosophie“. Die Debatte darüber in den 70er Jahren
       ging jedoch von einer falschen Annahme aus.
       
       ## Ein ungeordneter Materialhaufen
       
       In den 1850er-Jahren entwickelte Marx Skizzen eines „Plans der politischen
       Ökonomie“. Der Plan sah sechs Bände vor: „1. Das Kapital (Ware, Geld,
       Produktionsprozess und Zirkulationsprozess, Kredit, Aktienkapital); 2.
       Grundeigentum; 3. Lohnarbeit; 4. Staat; 5. Auswärtiger Handel; 6.
       Weltmarkt“. Von diesen sechs Bänden ist nur ein Teil des ersten Bands zu
       Marx’ Lebzeiten erschienen. Für einen weiteren Teil des ersten Bands lag
       bei Marx’ Tod (1883) ein Manuskript vor, das Friedrich Engels druckfertig
       machte, und 1885 als „Das Kapital. Zweiter Band“ erscheinen ließ.
       
       Der dritte Teil des ersten Bands existierte als nur ein großer und
       ungeordneter Haufen von Notizen, Fragmenten und Konzepten – mehr oder
       weniger ausgearbeiteten. Engels stellte aus diesem Konglomerat von Texten
       kenntnisreich eine druckfähige Version her, die 1894 unter dem Titel „Das
       Kapital. Dritter Band“ erschien.
       
       Faktisch blieb das dreibändige Werk, das nur zu einem Drittel von Marx
       veröffentlicht wurde, für gut 100 Jahre ein Torso. Das geplante
       sechsbändige Werk ist nie erschienen, sondern existiert nur als
       Materialhaufen aus Manuskripten und Entwürfen. Relativ kleine Mengen dieser
       Manuskripte hat der Sozialdemokrat Karl Kautsky (1854–1938) unter dem Titel
       „Theorien über den Mehrwert“ in drei Bänden ediert (1905–1910). Die
       Manuskripte zu den „Theorien über den Mehrwert“ enthalten Marx’
       Auseinandersetzung mit den ökonomischen Theorien des 17. bis 19.
       Jahrhunderts. Die Forschung vertrat lange die Hypothese, bei den „Theorien
       über den Mehrwert“ handle es sich um den vierten Band des „Kapitals“.
       
       ## System des Ganzen
       
       Zweitens wurde die Brüchigkeit dieser Hypothese sichtbar, als 1972 die
       Arbeiten an der Edition der „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ (MEGA) begannen.
       Schnell wurde jetzt klar, warum „Das Kapital“ nach 150 Jahren kein neues,
       aber doch ein anderes Buch ist als noch vor 50 Jahren. Die MEGA wurde nach
       dem Untergang der DDR nicht abgewickelt, weil sie Weltniveau aufwies im
       Unterschied zu anderen DDR-„Errungenschaften“.
       
       Der riesige Nachlass belegt, dass sich Marx in seinem Bestreben, ein System
       des Ganzen nach Hegels Vorbild zu schaffen, in eine Sackgasse manövrierte.
       Hegels System umfasste Logik, Ästhetik, Religion, Geschichte, Recht und die
       Gesamtheit des Wissens („Enzyklopädie“). Während Marx an seinem System
       arbeitete, vollzog sich die industrielle und wissenschaftliche Revolution,
       die das Wissen immer schneller vermehrte. Große Lexika gaben deshalb ihren
       Anspruch auf, das gesamte Wissen zu sammeln, denn das Wissen wuchs
       schneller, als die Lexikografen arbeiten konnten. Erst recht war Marx’
       Absicht aussichtslos, sein System als Einzelkämpfer im Lesesaal des British
       Museum vollenden zu können.
       
       Dass Marx sich damit nicht abfand, beweist die thematische Breite seines
       Nachlasses. Er fertigte nicht nur eine immense Zahl an Exzerpten von Werken
       aus Ökonomie, Statistik, Geschichte und Politik an, sondern beschäftigte
       sich auch mit den neuesten Forschungen aus Chemie, Geologie, Mechanik,
       Agronomie und Mathematik. Allein die Exzerpte aus Büchern zur Geologie
       umfassen zusammen mit den Kommentaren 1.104 Seiten. Bei dieser Arbeit stieß
       Marx auf den Begriff der geologischen Gesteinsformation. Von diesen
       naturwissenschaftlichen Exzerpten her lässt sich nachvollziehen, wie er den
       naturwissenschaftlichen Formationsbegriff sozialwissenschaftlich zum
       Begriff „Gesellschaftsformation“ drehte. Wo soziale Beziehungen zwischen
       Subjekten ökonomisch überformt werden und die Verhältnisse buchstäblich
       versteinern, trifft der aus der Geologie entlehnte Begriff die Sache.
       
       In komplizierter Kleinarbeit arbeiteten die Editoren der MEGA an der
       Pulverisierung des Mythos vom dreibändigen Hauptwerk „Kapital“. Aus der
       Menge von Manuskripten rekonstruierten sie das einzig Mögliche: kein Werk,
       schon gar kein Lehrbuch, wie Leninisten-Stalinisten meinten, sondern ein
       Fragment. Das Ergebnis dieser Editionsarbeit liegt seit vier Jahren vor.
       
       In der MEGA umfasst das ehemals drei- beziehungsweise vierbändige „Kapital“
       15 Bände in 22 Teilbänden auf rund 12.000 Seiten. Es handelt sich, wie der
       Politikwissenschaftler Harald Bluhm meint, um eine „vollendete Edition des
       unvollendeten Projekts“. Die Edition dokumentiert Marx’ gescheiterten
       Versuch, erneut das Ganze eines „Systems“ und die „Kritik“ daran
       darzustellen. Aus Marx’ genialem Plan eines Theoriegebäudes entstand nur
       ein Rohbau – freilich auf solidem Fundament. Die abgeschlossene Edition
       stellt die wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx auf eine neue Basis.
       
       So lassen sich die Bearbeitungen, Zusätze und Streichungen von Engels im
       zweiten Band des „Kapitals“ jetzt minutiös verfolgen. Es sind rund 5.000
       Textänderungen. Im dritten Band fügte Engels an einer Stelle das Wort
       „Zusammenbruch“ in den Text ein. Mit erheblichen Konsequenzen. Daraus
       bastelten deutsche Sozialdemokraten um die Jahrhundertwende die „Marx’sche
       Zusammenbruchstheorie“, die zeitweise die politische Praxis der Partei
       lähmte und auf den großen „Kladderadatsch“ (August Bebel) hoffen ließ.
       
       22 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
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