URI: 
       # taz.de -- Pro & Contra Martin Schulz' Wahlkampf: Sind Flüchtlinge das richtige Thema?
       
       > Hat Schulz und mit ihm die Sozialdemokratie mit der Flüchtlingsfrage das
       > richtige Wahlkampfthema gewählt? Zwei Positionen.
       
   IMG Bild: Geht es Schulz um das Leid der Geflüchteten – oder nur um den Wahlkampf der SPD?
       
       Unser künftiger Umgang mit Menschen, die aus anderen Ländern fliehen, ist
       ein Thema, über das niemand schweigen kann: Es sterben Menschen, weil
       Europa nichts auf die Kette bekommt, und das muss aufhören. Aber wem nützt
       es, wenn Martin Schulz das gerade jetzt im Wahlkampf aufgreift? Hat er –
       ethisch und taktisch – das richtige Thema gewählt?
       
       ***
       
       Ja, es ist nur redlich, über dieses Großthema zu sprechen 
       
       Das Thema sei ja da, antwortete Martin Schulz auf die Frage, ob er
       Flüchtlinge jetzt zum Hauptwahlkampfthema der SPD machen wolle. Recht hat
       er. Die Bewohner der italienischen Küstenstädte, in denen seit Januar über
       93.000 Menschen an Land gingen, können das bestätigen.
       
       Lasst uns in Deutschland über Flüchtlinge reden. Lasst uns auch über die
       zwei Frauen und acht Männer unbekannter Herkunft nicht schweigen, die am
       29. Mai ertrunken im Mittelmeer trieben. Oder über das Baby, das ohne Namen
       bleibt, weil es am 28. Juni noch auf einem Rettungsboot starb. 2.360 Tote
       und im Mittelmeer Vermisste registriert die Internationale Organisation
       für Migration seit Januar.
       
       Noch bekommen wir jenseits der Alpen kaum etwas davon mit, dass sich die
       zentrale Mittelmeerroute zum neuen Hauptweg nach Europa entwickelt – doch
       in den nächsten vier Jahren wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch
       unser Thema werden.
       
       Bei über 65 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind,
       angesichts von Bürgerkriegen und Klimawandel, von Epidemien, Hunger und
       Dürre muss man für diese Voraussage kein Hellseher sein. Es ist also nur
       redlich, dass sich ein Kanzlerkandidat eines künftigen Großthemas annimmt,
       dass er das Schicksal von Menschen thematisiert, die Angela Merkel in ihrem
       „Uns geht es gut“-Gesumse geflissentlich übergeht, und dass er versucht,
       Antworten zu geben. Man kann darüber streiten, ob Schulz den richtigen Ton
       getroffen hat oder ob es die richtigen Antworten sind.
       
       Streiten aber soll man. Es kann doch gerade für Linke keine Option sein,
       aus wahlkampftaktischen Überlegungen zu Flucht und Migration zu schweigen,
       nur weil rechte Parteien aus den aufflackernden Abwehrreflexen ihr
       Wählerpotenzial rekrutieren. Feige und verlogen wäre das.
       
       Statt Schulz zu fragen, ob er noch bei Sinnen ist, muss man ihn fragen: Wie
       kann Italien geholfen werden? Wie sieht eine menschenwürdige europäische
       Flüchtlings- und Einwanderungspolitik aus?
       
       Was wäre denn dabei, wenn Deutschland Italien ein Kontingent von 5.000
       Flüchtlingen abnähme? Oder die Quote von 500 Flüchtlingen, die jährlich
       über das UN-Flüchtlingswerk auf sicheren Wegen nach Deutschland gelangen,
       verzehnfacht? Wenn er nicht nur als Merkel-Mäkler wahrgenommen werden will,
       sollte Schulz sich bei dem Thema noch viel weiter vorwagen. Anna Lehmann
       
       ***
       
       Nein, es geht ihm nur darum, Merkel schlecht zu machen 
       
       Martin Schulz war in der Vergangenheit nie um deutliche, auch unbequeme
       Worte verlegen – gerade in Fragen der Moral. Jetzt dreht er ab in Richtung
       Populismus. Ginge es ihm hauptsächlich um das Schicksal der im Mittelmeer
       ertrinkenden Flüchtlinge, hätte er sich in Bild am Sonntag wohl kaum mit
       erhobenem Zeigefinger distanziert von „gut gemeinten humanitären Gründen“,
       die Angela Merkel dazu bewogen hätten, 2015 „die Grenzen zu öffnen“.
       
       Letzteres hat sie nicht, sie hat sie vielmehr nicht geschlossen, aber das
       ist fast schon egal angesichts der falschen Fakten, die Schulz im selben
       Atemzug nennt: 2015 seien „weitgehend unkontrolliert“ über eine Million
       Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Es waren aber nur 890.000.
       
       Die Kombination aus düsteren Prophezeiungen und übertriebenen
       Flüchtlingszahlen ist klassisches AfD-Niveau – und eines
       sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten unwürdig. Zumal die SPD Merkels
       Flüchtlingspolitik gut und gerne mitgetragen hat, von „Wir schaffen das“
       bis Asylpaket I und II. Seehofers Obergrenze ging beiden zu weit. Aber ist
       es nicht genau eine solche, die Schulz indirekt meint, wenn er fordert,
       dass Deutschland nun von der Flüchtlingsverteilung ausgenommen werden
       solle?
       
       Unklar ist ohnehin, wen er eigentlich ansprechen will. Die berühmten
       Abgehängten, also potenzielle AfD-Wähler, die dann denken sollen: Die SPD
       wird ja doch noch vernünftig, wähl ich lieber die? Das hat schon bei Sigmar
       Gabriel nicht funktioniert.
       
       Merkel aus heiterem Himmel für ihre Flüchtlingspolitik, vor allem aber für
       das Fehlen von Solidarität in der EU anzugreifen, ist schon ziemlich
       grotesk. „Eine Situation wie 2015 würden wir nicht mehr verkraften, auch
       politisch nicht“ – Schulz’ Äußerung im „Tagesthemen“-Interview zeigt, dass
       es ihm offenbar nur darum geht, Merkel schlechtzumachen. Und das ist so
       schlicht wie erfahrungsgemäß vergebens, zumal von der anderen Seite
       CSU-Chef Seehofer die Kanzlerin in genau demselben Tenor in die Zange
       nimmt.
       
       Eine sachliche Debatte täte dem Thema gut, denn mit einem hat Schulz ja
       recht: Es sterben Menschen, weil Europa nichts auf die Kette bekommt, und
       das muss aufhören. Aber zumindest für diesen Kandidaten ist
       Flüchtlingspolitik das falsche Wahlkampfthema. Die größte Freude daran wird
       nicht die SPD haben, sondern leider die AfD. Johanna Roth
       
       25 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
   DIR Johanna Roth
       
       ## TAGS
       
   DIR Flüchtlinge
   DIR Geflüchtete
   DIR Martin Schulz
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
   DIR Libyen
   DIR CDU
   DIR Kanzlerkandidatur
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Rote Armee
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Martin Schulz
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR taz.leicht
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kommentar Flüchtlingspolitik: Besser kein Wahlkampfthema
       
       Der Umgang mit Geflüchteten spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle. Das ist
       gut so. Denn das Thema würde der AfD nur so passen.
       
   DIR Seehofer und die CSU im Wahlkampf: Obergrenze keine Bedingung mehr
       
       Monatelang hatte die CSU auf einer Obergrenze für die Aufnahme von
       Geflüchteten beharrt. Jetzt stellt Seehofer fest: „Der Kurs in Berlin hat
       sich verändert“.
       
   DIR Martin Schulz bei Berliner Leserkonferenz: Eine ehrliche Haut
       
       Auf der Konferenz schwingt eines mit: Schulz wird wohl nicht Kanzler. Dass
       er hier Rede und Antwort steht, kann man fast „tapfer“ nennen.
       
   DIR Debatte Sozialdemokraten im Wahlkampf: Zu zahm für Gerechtigkeit
       
       Martin Schulz und die SPD überzeugen nicht, weil ihrem Programm der Mut
       fehlt. Etwa für die Beibehaltung des Soli und eine Vermögensteuer.
       
   DIR „Landshut“-Maschine kommt ins Museum: Millionen für ein Schrottflugzeug
       
       Sigmar Gabriel macht Geld locker für die Pflege einer bundesdeutschen
       Legende. Das Flugzeug stehe symbolisch für die wehrhafte Demokratie.
       
   DIR EU-Flüchtlingsrettung verlängert: Anhaltende Seenot
       
       Die EU verlängert den Einsatz zur Rettung von Flüchtlingen. Auch Italien
       knickt ein – und gibt den Druck an die NGOs weiter.
       
   DIR Kommentar Schulz' Wahlkampfstrategie: Der Merkelvertreter
       
       Um Italien zu entlasten, will Martin Schulz ankommende Flüchtlinge auf
       andere EU-Staaten verteilen. Dass das nicht funktioniert, zeigt sich seit
       2015.
       
   DIR Wahlkampfstrategie von Martin Schulz: Flüchtlinge sollen sich lohnen
       
       Der SPD-Kanzlerkandidat möchte in der Europa-Politik punkten und Italien in
       der Flüchtlingskrise entlasten. Ganz neu ist sein Vorschlag nicht.
       
   DIR Leichte Sprache: Wie Angela Merkel Wahl-Kampf macht
       
       Angela Merkel muss endlich sagen, welche Themen ihr bei der Bundestags-Wahl
       wichtig sind.