URI: 
       # taz.de -- Flüchtlinge als Wahlkampfthema: Ein gefährliches Experiment
       
       > Die Flüchtlingspolitik landet durch SPD-Kanzlerkandidat Schulz mitten im
       > Wahlkampf. Wer profitiert? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
       
   IMG Bild: Martin Schulz (SPD) versucht die Bundestagswahl zu gewinnen
       
       Berlin taz | Lange schien es, als hielten die Parteien – die AfD
       ausgenommen – die Flüchtlingspolitik aus dem Wahlkampf heraus. Zu groß war
       die Angst, WählerInnen zu verunsichern oder den Rechtspopulisten
       willkommene Vorlagen zu liefern. Doch nach dem Vorstoß von SPD-Kandidat
       Martin Schulz, der von Europa mehr Solidarität in der Flüchtlingsfrage
       einforderte, wird das heikle Thema groß diskutiert. Die taz beantwortet die
       wichtigsten Fragen.
       
       Was will Schulz anders machen als Angela Merkel? Merkel arbeitet seit 2015
       an einem Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge in der EU. Die Akzeptanz
       dafür ist gering, viele EU-Staaten weigern sich, andere sagten nur
       symbolische Zahlen zu. SPD-Kanzlerkandidat Schulz macht im Grunde zwei neue
       Vorschläge. EU-Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, sollen Geld aus dem
       EU-Haushalt bekommen. Und Verweigerer sollen finanziell bestraft werden.
       Schulz hatte schon bei der Vorstellung seines Deutschlandplans vor gut
       einer Woche angekündigt, als Kanzler im Zweifel ein Veto gegen den
       EU-Haushalt einzulegen. Die Drohung zielt zum Beispiel auf Staaten wie
       Ungarn oder Polen, wo rechtsnationalistische Regierungen gegen Flüchtlinge
       polemisieren.
       
       Hätten die Ideen Aussicht auf Erfolg? Schwer zu sagen. Es hinge davon ab,
       wie viele Staats- und Regierungschefs ein Kanzler Schulz hinter seine Ideen
       versammeln könnte. Würden nur die Deutschen in Brüssel und Straßburg für
       ein solches Anreiz-Strafe-System plädieren, wäre es nicht durchsetzbar.
       Aber wahr ist auch: Das Prinzip „freiwillige Zusage“ funktioniert in der
       Flüchtlingspolitik hinten und vorne nicht. Merkels Weg ist – Stand jetzt –
       verbaut.
       
       Aber im Grunde trägt die SPD doch Merkels Flüchtlingspolitik mit, oder? Ja.
       SPD-Generalsekretär Hubertus Heil betonte am Montag noch einmal, dass die
       SPD zu der humanitären Entscheidung des Septembers 2015 stehe. Damals
       öffnete Merkel die Grenzen für Flüchtlinge aus Ungarn. Die SPD wirbt wie
       Merkel für die Sicherung der EU-Außengrenzen, für Abschiebung von
       Armutsflüchtlingen und für die Bekämpfung der Fluchtursachen. Aber im
       Wahlkampf geht es eben darum, sich abzusetzen – und sei es nur in Nuancen.
       Heil betonte zum Beispiel, dass man sich im Jahr 2015 nicht in
       ausreichendem Maße mit europäischen Partnern abgestimmt habe. Heißt: Merkel
       trägt die Verantwortung für die deutsche Isolation in der EU in der
       Flüchtlingspolitik.
       
       Was tut Schulz, um seine Forderungen durchzusetzen? Der SPD-Kanzlerkandidat
       will am Donnerstag nach Rom fliegen, um dort mit Ministerpräsident Paolo
       Gentiloni über Hilfen und einen europäischen Solidarpakt zu sprechen.
       Schulz hat kein Regierungsamt, das ihm solche Termine verschaffen würde. Er
       verfügt aber aus seiner Zeit als EU-Parlamentspräsident über sehr gute
       Kontakte. Danach will er auf Sizilien ein Flüchtlingslager besuchen und mit
       Kommunalpolitikern sprechen. Sein Aufschlag in Interviews am Wochenende
       sollte auf diese Wahlkampftour vorbereiten.
       
       Schulz warnt davor, eine Situation wie 2015 könne sich wiederholen. Zu
       Recht? Das dürfte eine Übertreibung sein. Im Jahr 2015 sind rund 890.000
       Menschen in Deutschland eingereist – und nicht über eine Million
       Flüchtlinge, wie Schulz in der Bild am Sonntag fälschlicherweise
       behauptete. Wegen der Schließung der Balkanroute durch mehrere Staaten und
       des EU-Türkei-Abkommens sind die Zahlen deutlich gesunken. Im ersten
       Halbjahr 2017 wurden laut Bundesinnenministerium rund 90.000 Asylsuchende
       in Deutschland registriert. Sie kamen vor allem aus Syrien, Irak,
       Afghanistan und Eritrea. Entscheidend ist allerdings die Situation in
       Italien, da inzwischen wieder viele Menschen über die sogenannte
       zentralmediterrane Route von Afrika nach Italien fliehen. Im Jahr 2017
       nahmen bis Mitte Juli gut 93.000 Menschen die lebensgefährliche Reise auf
       sich.
       
       Ist es klug, im Wahlkampf über Flüchtlinge zu sprechen?Merkel hat kein
       Interesse an der Debatte, weil CDU und CSU bei der Obergrenze nach wie vor
       zerstritten sind. Seehofer wärmte prompt seine alte Forderung auf, nur
       200.000 Flüchtlinge jährlich aufzunehmen. Das ist das taktische Interesse
       der SPD. Sie will Merkels wunden Punkt thematisieren. Führende
       Sozialdemokraten unterstützten den Vorstoß von Schulz. „Die
       Flüchtlingsfrage ist da“, sagte Generalsekretär Heil. „Niemand, der
       verantwortliche Politik macht, kann sich davor drücken.“ Für die
       Rechtspopulisten ist die Angst vor Flüchtlingen ein wichtiges
       Mobilisierungsthema, deshalb kam prompt Beifall aus der rechten Ecke. Die
       Flüchtlingskrise müsse Bestandteil des Wahlkampfs sein, sagte
       AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland. „Da hat Martin Schulz ausnahmsweise
       mal recht.“
       
       Nutzt das Thema der SPD? Da sind Zweifel angebracht. Die SPD stützt sich
       auf sehr unterschiedliche Wählermilieus. Das linksliberale Bürgertum und
       Angestellte im öffentlichen Dienst haben einen anderen Blick auf
       Flüchtlinge als einfache Arbeiter, die Konkurrenz im Niedriglohnsektor
       fürchten. Schulz muss also beides signalisieren – Weltoffenheit und Schutz
       vor zu vielen Geflüchteten. Eine Studie des Deutschen Instituts für
       Wirtschaftsforschung ergab neulich, dass die AfD im Jahr 2016 mit 34
       Prozent den größten Arbeiteranteil in ihrer Wählerschaft hatte. Die
       Flüchtlingspolitik offen zu thematisieren, ist ein Experiment. Einerseits
       ist es redlich, über ein Großthema der kommenden Jahre zu sprechen.
       Gefährlich ist es aber auch.
       
       Lässt Deutschland Italien im Moment hängen? Die Bundesregierung betonte
       gestern, dass viele Hilfsmaßnahmen bereits laufen. Besonders belastete
       EU-Mitgliedsstaaten dürften nicht allein gelassen werden, sagte die
       stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer. Die Regierung arbeite
       intensiv daran, dass sich eine Situation wie im Jahr 2015 nicht wiederhole.
       Das Auswärtige Amt verwies auf einen Aktionsplan der EU-Kommission zur
       Unterstützung Italiens, den die Bundesregierung unterstütze. Der Plan sieht
       zum Beispiel ein Seenotrettungszentrum in Libyen vor, die Aufstockung der
       Finanzmittel für die Migrationssteuerung in Italien und erheblich größere
       Beiträge der Mitgliedsstaaten für einen EU-Treuhandfonds für Afrika.
       
       24 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
       ## TAGS
       
   DIR Martin Schulz
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
   DIR Flüchtlinge
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR CDU
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR EuGH
   DIR Martin Schulz
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Martin Schulz
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Rechtswidrige Abschiebungen: Italien ist unzumutbar
       
       Das Verwaltungsgericht Oldenburg hat beschlossen, dass die Abschiebung
       eines Ivorers nach Italien rechtswidrig ist. Die Zustände dort seien zu
       schlimm.
       
   DIR Seehofer und die CSU im Wahlkampf: Obergrenze keine Bedingung mehr
       
       Monatelang hatte die CSU auf einer Obergrenze für die Aufnahme von
       Geflüchteten beharrt. Jetzt stellt Seehofer fest: „Der Kurs in Berlin hat
       sich verändert“.
       
   DIR Debatte Sozialdemokraten im Wahlkampf: Zu zahm für Gerechtigkeit
       
       Martin Schulz und die SPD überzeugen nicht, weil ihrem Programm der Mut
       fehlt. Etwa für die Beibehaltung des Soli und eine Vermögensteuer.
       
   DIR Wahlkampf an der Haustür: Wenn der Politiker zweimal klingelt
       
       In den USA ist der Haustürwahlkampf gang und gäbe. Auch hierzulande gehen
       Kandidaten direkt zu den Wählern und stellen sich ihnen vor.
       
   DIR Fake-Tweet der Jungen Union: The real Martin Schulz?
       
       Der SPD-Politiker geht gegen einen Fake-Post der JU auf Facebook vor. Er
       unterstellte Schulz Verharmlosung von Linksextremismus.
       
   DIR EuGH-Urteil zur Balkanroute: Das Dublin-Abkommen gilt
       
       Der EuGH hat über die Einreise von Flüchtlingen auf der Balkanroute
       geurteilt. Slowenien und Ungarn werden wohl Geflüchtete aufnehmen müssen.
       
   DIR Kommentar Schulz' Wahlkampfstrategie: Der Merkelvertreter
       
       Um Italien zu entlasten, will Martin Schulz ankommende Flüchtlinge auf
       andere EU-Staaten verteilen. Dass das nicht funktioniert, zeigt sich seit
       2015.
       
   DIR Wahlkampfstrategie von Martin Schulz: Flüchtlinge sollen sich lohnen
       
       Der SPD-Kanzlerkandidat möchte in der Europa-Politik punkten und Italien in
       der Flüchtlingskrise entlasten. Ganz neu ist sein Vorschlag nicht.
       
   DIR Kommentar Schulz' Zukunftsplan: So was wie Grundeinkommen light
       
       Die Bundestagswahl ist noch lange nicht entschieden. SPD-Kanzlerkandidat
       Martin Schulz hat mit seinem „Chancenkonto“ was im Angebot.
       
   DIR Schulz legt „Zukunftsplan“ der SPD vor: Mit zehn Punkten gegen Merkel
       
       SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stellt einen weiteren Plan vor. Er
       verspricht Geld für Bildung, Infrastruktur und einen Staat, „der online
       geht“.
       
   DIR SPD im Wahlkampf: Martin Schulz müht sich
       
       Der Kanzlerkandidat rackert, seine Partei hat Ideen, aber bisher hilft
       alles nichts gegen Merkels Mythos. Abschreiben sollte man die SPD aber
       nicht.