URI: 
       # taz.de -- Gemeinsame Abschlussprüfungen: Glück gehabt, Berliner Abi!
       
       > Bisher sind die Abinoten der einzelnen Bundesländer kaum vergleichbar.
       > Ein Aufgabenpool soll das ändern. Das Abi 2017 zeigt: Das reicht nicht
       > aus.
       
   IMG Bild: Abi – geschafft? Und wenn ja: mit welchem Schnitt?
       
       Joachim Straub hat das Pech, in Baden-Württemberg geboren zu sein. Der
       Achtzehnjährige hat vor ein paar Wochen seine letzte Abiturprüfung
       bestanden, eine mündliche Präsentation in Gemeinschaftskunde, mit einer
       1,2. Trotzdem steht in seinem Abiturzeugnis am Ende eine 2,5. Sein Problem:
       Mathematik und die Naturwissenschaften sind nicht seine besten Fächer.
       
       Doch das Abitur ist im Südwesten so aufgebaut, dass ihn diese Schwächen
       besonders hart treffen. Wäre er in einem anderen Bundesland in die Schule
       gegangen, er hätte womöglich einen besseren Abschluss erreicht. Und bei
       Straub, der Jura studieren will, zählt am Ende jedes Zehntel, wenn er an
       die besten Universitäten des Landes möchte.
       
       Der Weg zum Abitur ist natürlich keine Vergnügungsfahrt, nirgendwo in der
       Republik. Doch landesweit sind die Anforderungen an Schüler so verschieden,
       dass eine Vergleichbarkeit mehr als fragwürdig ist. Ein Abitur aus
       Baden-Württemberg ist am Ende gleich viel Wert wie eins aus Berlin oder
       eines aus Sachsen-Anhalt. Nur sind sie eigentlich nicht vergleichbar. Das
       weiß auch die Politik.
       
       Damit sich das irgendwann ändert, haben die Kultusminister der Länder
       dieses Jahr den ersten großflächigen Versuch unternommen, die Prüfungen
       vergleichbarer zu gestalten. Erstmals haben sich die sechzehn Länder aus
       einem gemeinsamen Aufgabenpool für das Abitur bedient. Möglich war das für
       die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch, Fächer also, die
       in quasi allen Ländern zum Pflichtprogramm in der Oberstufe gehören und bei
       denen man sich schon 2012 auf gemeinsame Standards einigen konnte.
       
       Das Ergebnis: In kaum einem Bundesland haben sich die Schnitte durch die
       teils gemeinsamen Prüfungen wesentlich verändert. Zwischen dem besten
       Schnitt (2,18) in Thüringen und dem schlechtesten (2,57) in Niedersachsen
       liegt fast eine halbe Note.
       
       ## Einheitliche Aufgaben senken das Niveau? Stimmt nicht
       
       Das liegt auch daran, dass es den Ländern freistand, wie viele und welche
       Aufgaben sie pro Fach aus dem Pool ziehen würden, und wie viele sie doch
       lieber selbst schreiben, auch in Anbetracht der teils stark
       unterschiedlichen Lehrpläne, weshalb gar nicht jedes Land jede Aufgabe
       nutzen konnte.
       
       Die acht Länder, die bereits seit 2014 gemeinsame Aufgaben verwenden,
       darunter Bayern und Sachsen, nutzten alle identische Poolaufgaben: Eine
       Lyrikaufgabe in Deutsch, den taschenrechnerfreien Teil in Mathematik und
       eine Aufgabe in Englisch. Manche gingen da weiter. Die Mathematikprüfung in
       Schleswig-Holstein in diesem Jahr stammt zur Hälfte aus dem Pool, in
       Sachsen waren es vier von sieben Aufgaben, in Bremen fast die ganze
       Prüfung.
       
       Im Vorfeld wurde befürchtet, einheitliche Aufgaben würden zu einem
       sinkenden Prüfungsniveau führen. Erste Indizien aus Hamburg legen ein
       anderes Bild nahe: Bei Vortests zum diesjährigen Mathematik-Abitur, das in
       Hamburg zu großen Teilen aus dem Aufgabenpool stammt, schnitten die Schüler
       mit 4,1 ab. Der Durchschnitt wäre durchgefallen. In Hamburg gilt das Abitur
       als recht einfach. Danach gab es extra Matheunterricht – das half offenbar,
       ein wenig. Der Schnitt bei den richtigen Matheprüfungen liegt nun bei 3,5.
       Ein Drittel der Prüflinge haben eine 5 oder sogar eine 6 geschrieben. Das
       ist noch immer sehr schlecht.
       
       Der Aufgabenpool brachte auch mit sich, dass so viele Länder wie noch nie
       gleichzeitig ihre Prüfungen schrieben. Am 25. April wurde in zwölf Ländern
       Deutsch geprüft, drei Tage später schrieben Schüler aus den gleichen
       Ländern Englisch. Am 5. Mai fehlten nur Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz
       bei Französisch und zwei Tage vorher schrieben sogar vierzehn Länder das
       Mathematik-Abitur zur gleichen Zeit. Das grenzt schon fast an ein Wunder im
       föderalistischen Bildungssystem der Republik.
       
       ## Gechilltes Abi für Berliner, stressiges in Sachsen-Anhalt
       
       Nur: Ist es damit vergleichbarer geworden? Bis jetzt kaum, sagt der
       Vorsitzende des konservativen Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter
       Meidinger. Nur etwa ein Fünftel der jeweiligen Abituraufgaben in den
       besagten Fächern komme aus dem Pool, schätzt er. Es wird aber auch in
       anderen Fächern geprüft, und hier tritt wieder der Föderalismus auf den
       Plan. Zwar haben sich die Kultusminister darauf geeinigt, Deutsch, Mathe
       und die Fremdsprachen wieder in den Fokus der Abiturprüfungen zu rücken.
       
       Doch das wird unterschiedlich gehandhabt. In Bayern muss man in allen drei
       Fächern eine Prüfung ablegen, während man in Berlin Mathematik umgehen
       kann. In Sachsen ist eine Fremdsprache wiederum nicht verpflichtend. In
       Niedersachsen müssen vier Prüfungen geschrieben werden, in Hessen drei, in
       Baden-Württemberg kann man die mündliche Prüfung umschiffen, Thüringen
       lässt das nicht zu.
       
       Doch was einer wirklichen Vergleichbarkeit aktuell am meisten im Wege
       steht, ist, dass jene finalen Prüfungen schon lange nicht mehr so bedeutend
       sind wie früher. Denn sein Abitur, das schreibt man heute zu zwei Dritteln
       in den vier Halbjahren davor.
       
       Und das bedeutet: gechilltes Abi für Berliner, stressiges Abi für Schüler
       in Sachsen-Anhalt. Wie für Emily Schieferdecker. Die Siebzehnjährige
       schreibt nächstes Jahr ihre Abiturprüfungen. Auf dem Weg dorthin muss sie
       sechs Intensivkurse belegen, vier Stunden pro Woche. Deutsch, Mathe,
       Geschichte, eine Fremdsprache, eine Naturwissenschaft und noch mal entweder
       eine Fremdsprache oder eine Naturwissenschaft.
       
       Das Ungerechte: In Baden-Württemberg sind es fünf, in vielen anderen sogar
       nur vier Kurse. In Berlin ist es noch entspannter. Die Hauptstadt hat noch
       das Leistungskurssystem, zwei Kurse werden fünfstündig unterrichtet, einer
       davon darf komplett frei gewählt werden. Musik, Sport, Gemeinschaftskunde,
       alles ist möglich. Diese beiden Fächer zählen am Ende sogar doppelt in die
       Abiturnote, wer seine Stärken also kennt und geschickt auswählt, kann
       seinen Schnitt in Berlin leicht verbessern.
       
       ## Zum Abi zählt viel mehr
       
       Joachim Straub, der Schüler aus Baden-Württemberg, kann das nicht. Und: Wer
       innerhalb von neun Jahren sein Abitur in Berlin macht, kommt in der
       Oberstufe mit 28 Wochenstunden durchs Abitur. Das wären vier Stunden
       weniger als in Baden-Württemberg und sechs Stunden weniger als das Minimum
       in Sachsen-Anhalt – ein ganzer Schultag.
       
       Was ebenso unterschiedlich ist: Die Anzahl der Halbjahresleistungen, die
       zum großen Teil die Abinote ausmachen. Zwei Jahre vor der Abiturprüfung
       belegen die Schüler eine bestimmte Anzahl an Kursen, am Ende jedes der vier
       Halbjahre gibt es dafür je eine Note. Die Kultusministerkonferenz hat
       beschlossen, dass in jedem Bundesland mindestens 32 dieser Kursnoten am
       Ende ins Abitur einfließen müssen.
       
       Berlin hält sich an diesen Mindeststandard, ebenso wie Hessen, Hamburg und
       Bremen. Baden-Württemberg verlangt aber 40 Kursnoten, und das hat
       weitreichende Folgen. Denn je mehr verpflichtend ins Abitur einfließen,
       umso weniger fallen am Ende unter den Tisch. Straub kann also viel weniger
       schlechte Noten aus dem Zeugnis streichen als Schüler in Hessen oder
       Hamburg.
       
       Unterschiedliche Lehrpläne, unterschiedliche Niveaus, verschiedene
       Prüfungsaufgaben und eine kaum vergleichbare Oberstufe. Das führt zu einem
       klaffenden Unterschied bei den Noten. In Thüringen leben offenbar die
       fähigsten Schüler des Landes – jedenfalls haben sie hier die mit Abstand
       besten Noten. Im Schnitt eine 2,1. Während im benachbarten Niedersachsen
       die offenbar schlechtesten Schüler des Landes auf den Bänken sitzen, 2,6
       war der Durchschnitt im Abitur dieses Jahr. Darf das sein?
       
       ## „Natürlich ist das unfair“
       
       „Das Abitur ist in Deutschland zu unterschiedlichen Preisen zu haben,“
       glaubt Lehrerchef Meidinger. Und selbst wenn die Aufgaben angeglichen
       würden, das Problem sieht er bei den Korrekturen: „Was in einem Land als
       Zwei bewertet wird, ist im Nachbarland eine Drei und woanders eine Vier.“
       Solange die Korrekturmaßstäbe nicht einheitlicher werden, würde nach
       Meidingers Logik auch das Abitur nicht vergleichbar sein.
       
       „Natürlich ist das unfair“, sagt Emily Schieferdecker aus Sachsen-Anhalt,
       und meint damit vor allem den Einzug in die Hörsäle der Republik. Etwa die
       Hälfte der deutschen Studiengänge sind zulassungsbeschränkt. Und noch immer
       ist die Abiturnote ausschlaggebend. Seit dem viele Studienplätze nicht mehr
       zentral vergeben werden, gibt es auch keinen Bayern-Bonus mehr, keine
       Quoten für einzelne Bundesländer. Es zählt die Note, und die 2,0 aus
       Thüringen ist gleich viel Wert wie die 2,0 aus Bayern oder Sachsen-Anhalt.
       
       Für Ludger Wößmann, Bildungsexperte am ifo-Institut in München, ist der
       Aufgabenpool nur ein erster Schritt in Richtung mehr Vergleichbarkeit im
       Abitur. Ziel müsse es sein, mindestens in den Kernfächern
       Prüfungsbestandteile zu haben, bei denen alle Schüler in Deutschland zur
       gleichen Zeit die gleichen Aufgaben schreiben. Das scheint heute nicht mehr
       unerreichbar.
       
       Aber reicht das aus? Wößmann hofft, ähnlich wie die Kultusminister, dass
       diese Aufgaben auf die gesamten Abiturprüfungen und auf die Klausuren und
       Lehrpläne der gesamten Oberstufe abfärben. Damit auch dort die Noten
       endlich vergleichbarer werden.
       
       Ob sich diese Hoffnung erfüllt, wird sich frühestens in ein paar Jahren
       zeigen.
       
       27 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timo Nicolas
       
       ## TAGS
       
   DIR Zentralabitur
   DIR Abitur
   DIR Bildungspolitik
   DIR Ausbildung
   DIR Numerus Clausus
   DIR Universität
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schule
   DIR Abitur
   DIR Studiengang Medizin
   DIR Bildung in Bremen
   DIR SPD
   DIR Abitur
   DIR Inklusion
   DIR Turbo-Abi
   DIR Hamburg
   DIR Zentralabitur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kultusministerkonferenz zu Abschlüssen: Kleinstaaterei ist sehr lebendig
       
       Die Bildungsminister der Länder wollen mit einem Staatsvertrag des
       Schulsystem vereinheitlichen. Aber können sie das überhaupt?
       
   DIR Abitur soll vergleichbar werden: Fucking Föderalismus
       
       Eine Abi-Aufgabe, zwei Bundesländer. In dem einen haben Schüler*innen
       länger Zeit. Die Kultusminister wollen die Abschlussprüfungen
       vereinheitlichen.
       
   DIR Medizin-Numerus-Clausus vorm BVerfG: Ohne 1,0 kein guter Arzt?
       
       Wird der „Numerus clausus“ für Medizin gekippt? Das
       Bundesverfassungsgericht prüft die Vergabe von Studienplätzen.
       
   DIR Mehr Geld für Bildung in Bremen: Zum Lernen in die Großstadt
       
       Bremen bekommt ab nächstem Jahr mehr Geld für die Aufnahme von
       niedersächsischen Schüler*innen – es ist die erste Erhöhung nach über 20
       Jahren
       
   DIR Kein Aufstieg mehr durch Bildung: SPD killt Ambitionen
       
       Hamburg erlaubt es nicht allen Schülern, freiwillig die 10. Klasse zu
       wiederholen. Nur Hauptschüler, die sehr gute Noten haben, bekommen die
       Chance
       
   DIR Kommentar zur Abiturangleichung: Richtiges Ziel, falscher Weg
       
       Es muss etwas gegen die Abitur-Ungerechtigkeit in den Bundesländern getan
       werden. Aber der Versuch, die Prüfungen zu vereinheitlichen, ist falsch.
       
   DIR Schulsenator Rabe zu Zentral-Prüfungen: „Wir dürfen beim Abitur nicht schummeln“
       
       Als einziges Land lies Hamburg in diesem Jahr ein rein externes
       Mathe-Abitur schreiben. Das Ergebnis sei „keine Katastrophe“, sagt
       Schulsenator Ties Rabe (SPD). Bei Neuntklässler-Studien stehe die Stadt
       sogar vorn
       
   DIR Kommentar Turboabi im Wahlkampf: Das Feld gehört nicht der CDU allein
       
       Das Aufwachsen unserer Kinder gehört unbedingt in Schleswig-Holsteins
       Wahlkampf. Am Streit um besseres Abitur sollten sich alle Parteien
       beteiligen.
       
   DIR Panne beim Zentralabi in Hamburg: Schulbehörde durchgefallen
       
       Bei der Abiturprüfung in Physik fehlte eine Formel. Die Schulbehörde
       schickte sie per Fax in die Prüfungszimmer – nicht überall rechtzeitig.
       
   DIR Zentralabitur wird getestet: Allzu zentral ist's noch nicht
       
       Sechs Bundesländer erproben das Zentralabitur. Bayern ist mit dabei, hat
       sich aber ein paar „anspruchsvolle“ Extras herausgehandelt.