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       # taz.de -- Gewaltdebatte nach dem G20-Gipfel: Distanzierung ist nicht alles
       
       > Alles sinnlose Gewalt? Alles durch Linke? Wer Hamburg aus einer
       > kritischen Perspektive analysieren will, muss schon genauer hinschauen.
       
   IMG Bild: Friedliche Proteste sind zweifellos ein Fest der Demokratie, aber häufig ohne politische Wirkung
       
       Nachdem die Rauchwolken über der Hamburger Innenstadt sich verzogen haben,
       wird es Zeit, inne zu halten und sich zu fragen: Wie könnte eine kritische
       politische Haltung zum Geschehenen aussehen?
       
       Eine kritische politische Haltung bestünde darin, sich der Medienlogik von
       „violence sells“ zu widersetzen, statt sie zu reproduzieren. Etwa, indem
       man die Gewaltbilder und Gewaltberichte über die Ausschreitungen auf
       Facebook teilt, entrüstet in den Chor der Empörung über die Sinnlosigkeit
       verwüsteter Blumenläden einstimmt, oft begleitet von der Klage, dass nun
       all die friedlichen und wichtigen Proteste gegen G 20 keine Aufmerksamkeit
       mehr bekämen.
       
       Das aber ist keine kritische politische Haltung, sondern eine boulevardeske
       postdemokratische Empörungsgeste, durch die man allenfalls sein eigenes
       Selbstbild als vermeintlich wachsame und kritische Bürger*innen zur Schau
       stellt. (Für den Fall, dass man dort lebt und unmittelbar davon betroffen
       ist, sieht die Sache anders aus.)
       
       Eine kritische politische Haltung hieße, sich der medialen
       Emotionalisierung zu entziehen. Etwa durch die Auseinandersetzung mit jenen
       alternativen politischen Protestpraktiken, die ebenfalls in Hamburg
       stattfanden; sie würde auf Differenzierungen insistieren und sich nicht in
       Trivialitäten ereifern, wie der, dass das willkürliche Abfackeln
       herumstehender Kleinwagen und der ganze andere Mist mit gesundem
       Menschenverstand nicht nachvollziehbar und allenfalls in einem
       geschlossenen ideologischen Weltbild zu rechtfertigen sind (was die ganze
       Sache nur noch weniger nachvollziehbar macht). Und das gilt für
       Journalist*innen und beobachtende Bürger*innen gleichermaßen.
       
       ## Zerstörungseifer nicht als Gegengewalt adeln
       
       Eine dieser Differenzierungen bestünde dann darin, einmal den Satz „Protest
       ist in Ordnung und wichtig, solange er gewaltlos bleibt“ kritisch zu
       reflektieren. Dieses kritische Reflektieren dürfte dabei nicht dem
       umgekehrten Reflex anheimfallen, das martialische Auftreten der Polizei und
       ihre wirklich skandalöse Einsatzstrategie als vermeintliche
       Erklärungsursache und insgeheime Rechtfertigung für die Ausschreitungen
       heranzuziehen. Kurzum: Den willkürlichen Zerstörungseifer von einigen
       gleichsam als Gegengewalt zu adeln. Nein, das wäre ebenfalls grotesk.
       
       Wichtig ist gerade jener Protest, der trotz alledem friedlich bleibt. Mit
       dem „trotz alledem“ ist nicht in erster Linie das – wie sich wahrscheinlich
       noch erweisen wird – rechtswidrige Aufsprengen des Demonstrationszugs am
       Donnerstag gemeint. Das „trotz alledem“ deutet auf den Umstand hin, dass
       friedlicher, aber fundamentaler Protest gegen den Zustand der westlichen
       Demokratien, den globalen Finanzkapitalismus, den fragwürdigen Politiken
       der G20 und dem neuen Autoritarismus die Ordnung mehr stabilisiert, als
       dass er sie verändert. Die politischen Eliten können darauf verweisen, wie
       lebhaft und vital die moderne Demokratie doch sei, und welchen Unterschied
       es doch mache, hier statt in der nicht-demokratischen Einöde zu leben.
       
       Das ist wohl auch alles richtig, aber von dem Argument „Sie nennen es
       Demokratie, aber es ist keine“, bleibt unterm Strich wenig hängen.
       
       ## Die linksautonome Szene ist keine Einheit
       
       Friedliche Proteste sind zweifellos ein Fest der Demokratie, aber häufig
       ohne politische Wirkung. Das gilt es zwar auszuhalten, aber man muss es
       auch erst einmal können. Die linksautonome Bewegung gibt sich damit nicht
       zufrieden. Mittels direkter Aktion und Praktiken des zivilen Ungehorsams
       verwandeln sie die rhetorische Fundamentalkritik in eine praktisch reale.
       In Hamburg lautet diese „Welcome to hell!“.
       
       Und an dieser Stelle muss erneut sehr gründlich hin geschaut werden. Denn
       erstens war es nicht „die linksautonome Szene“, die in Hamburg wütete,
       sondern es waren bestimmte Gruppen. Eine politische Bewegung ist keine
       homogene Einheit; sie hat kein Zentrum, sondern besteht aus vernetzten
       Gruppierungen und Einzelpersonen, die gerade in der linken Szene in ganz
       hohem Maße autonom agieren.
       
       Zweitens bedeutet die Weigerung, einen generellen Gewaltverzicht zu
       erklären, nicht primär, dass man willkürlich Autos in Brand steckt, Läden
       plündert oder Pflastersteine wirft. Sondern es bedeutet in erster Linie,
       dass man gegen ein polizeilich verhängtes Aufenthaltsverbot verstößt, Orte
       und Plätze besetzt, Camps errichtet, von denen eine politische Symbolik
       ausgehen soll und mit Barrikaden ausstattet, um sie vor der Räumung zu
       schützen; sich einer polizeilich vorgegebenen Demonstrationsformation
       widersetzt; von der vorgegebenen Demonstrationsroute abweicht, um näher an
       den Ort des Gipfelgeschehens zu kommen oder um Zufahrtswege zu blockieren.
       
       Diese Praktiken sind größtenteils nicht legal und bedeuten häufig
       Widerstand gegen die Staatsgewalt. Aber als Praktiken des zivilen
       Ungehorsams tragen sie mitunter zur Demokratisierung der Demokratie bei,
       indem sie Fundamentalkritik sichtbar und zum Gegenstand der öffentlichen
       Auseinandersetzung werden lassen.
       
       Davon zu unterscheiden ist das willkürliche, zweckfreie Zerstören. In
       diesem Zerstören mag vielleicht sogar noch eine politische Dimension lagern
       – denn es soll ja verhindert werden, dass in der Öffentlichkeit der Gipfel
       als erfolgreich oder als ein Fest der Demokratie ohne politische Wirkung
       wahrgenommen wird. Wenn schon keine politische Wirkung, dann schon lieber
       ein Fest des Chaos mit hohen Kosten, scheint man sich zu sagen – wenn man
       überhaupt noch in politischen Kategorien denkt.
       
       In diesem willkürlichen Zerstören ist dann aber auch der letzte Bezug zur
       Idee des Demokratischen, zu öffentlichem Streit, Konflikt und Widerspruch
       aufgekündigt.
       
       11 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Volk
       
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