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       # taz.de -- Kolumne Heldinnen der Bewegung: Verschwenderische Schönheit
       
       > Gaëtane Thiney belebt eine französische Tradition: dass Gewinnen eine
       > Folge des schönen Spiels ist und kein Zwang. Wenn sie dribbelt, dann
       > kribbelt’s.
       
   IMG Bild: Gaëtane Thiney glänzt mit verschwenderisch kleinteiligen Bewegungen
       
       Diese verdammten Pfosten, sie waren eckig. Sie standen in Glasgow, und sie
       standen im Weg. Es war im Mai 1976, Landesmeisterfinale, Hampden Park.
       Bayern München gegen Saint Etienne, 1:0 gewannen die Bayern, und alles bloß
       wegen dieser verdammten Pfosten. Die waren nämlich eckig. Zweimal hatte
       Saint Etienne seine Torversuche vom Gehäuse zurück ins Feld springen sehen,
       zweimal wäre der Ball drin gewesen, wären die Pfosten – wie anderswo – rund
       gewesen. Aber nein, sie waren eckig. Bayern gewann zum dritten Mal in Folge
       den Europapokal der Landesmeister. Saint Etienne blieb der Nimbus des
       ungerechtfertigten Verlierers, der im entscheidenden Moment nicht genau
       genug gewesen ist.
       
       Und auch danach ungenau blieb. Die Pfosten von Saint Etienne – noch heute
       heißen Restaurants so, in Frankreich ist der Ausdruck ein geflügeltes Wort
       –, das war eigentlich nur die Latte. Aber das klang zu umständlich, nun.
       Selbst in der Niederlage hat man auf Ästhetik zu achten.
       
       Jahrzehntelang war Frankreich in der Welt des Sports der beautiful loser;
       jene Nation, deren Mannschaften in Schönheit starben, statt wolfsgleich was
       zu reißen. Gut gespielt, das war ausreichend; jedem Sieg haftete etwas
       Schnödes, Konventionelles an, wenn er nicht ertanzt wurde. Noch heute
       vergessen viele französische Fußballfans den Gewinn der EM 1984, weil der
       von einem gegnerischen Torwartfehler begünstigt wurde. Wie unpoetisch!
       
       Der französische Fußball war in all seiner Verschwendung lange Zeit eine
       Antithese zum italienischen Pragmatismus. Man kann Zidane und Materazzi
       auch als gewaltsame Synthese lesen, die nötig wurde, weil Frankreich im
       Sport so unverschämt erfolgreich wurde in den 90ern.
       
       ## Trophäen mit schmutzigem Anhang
       
       Die verdammten 90er. Als Nirvana etc. der Welt die Schönheit des Sounds des
       Verlierens und Verzweifelns beibrachte, begann Frankreich, „Trophäen zu
       sammeln“. Vielen dieser Trophäen hängt etwas Schmutziges an – Olympique
       Marseilles Sieg im Europapokal der Landesmeister der Geruch der Korruption,
       den Brüdern Karabatic ein Wettskandal, den Titeln von 1998 und 2000 die
       Fortsetzung Kopfstoß und Knysna.
       
       Französische Mannschaften, scheint mir, sind dann überzeugend, wenn sie
       spielen, um zu spielen; wenn das Gewinnen eine Folge, kein Zwang des Spiels
       ist. (Das gilt nicht nur für französische, sondern für alle Mannschaften;
       aber die französische Kultur brachte diesen Effekt bisher am
       überzeugendsten hervor. Das hängt sicher auch mit einer dem Französischen
       eigenen lässigen Scheißegal-Haltung zusammen; je m’en fou, oder im Bereich
       des Sports dann halt eben je m’en foot.)
       
       Die Frauen-Nationalmannschaft ist da anders. Der französische Frauenfußball
       ist, zumindest auf Vereinsebene, im Begriff, die deutsche Bundesliga als
       Dominator abzulösen. Und international hat die Équipe tricolore zwar in der
       Tat noch nichts gewonnen, aber sie spielt so, als täte sie es ständig, mit
       brachialer Körperlichkeit und eisernem Willen. Georges, Renard, Houara (die
       Bulldogge), Bussaglia, Le Sommer, Thomis; sie alle stehen für einen
       Fußball, der Effektivität vor den Effekt setzt. Zielorientiert, körperliche
       Ressourcen aktivieren, ergebnislastig; fantasielos eben.
       
       Und es gibt Gaëtane Thiney, die in die Mannschaft passt wie ein Singvogel
       in eine Schraubenfabrik. Sie hat, das kann man sehen, Spaß am Ball, es
       liegt etwas Verspielt-Verträumtes in ihren verschwenderisch kleinteiligen
       Bewegungen. Wenn sie dribbelt, dann kribbelt’s. Deswegen passt sie schlecht
       in die Ergebnislastigkeit, die die französische Nationalmannschaft hat. In
       ihr lebt die Tradition Djorkaeffs, Battistons, Tiganas weiter.
       
       Im ersten Gruppenspiel wurde sie nach einer Stunde eingewechselt,
       Frankreich gewann nach zähem Spiel durch einen schnöden Elfmeter. Beim
       Remis gegen Österreich in der zweiten Partie durfte sie zwar von Anfang an
       ran, doch das Spiel rauschte an ihr vorbei. Mag sein, dass die Mannschaft
       dieses Mal den Titel holt, die notwendige robuste Eckigkeit ist da. Thiney
       wird eine Nebenrolle spielen, die schönste, ohne Frage, und eine
       unentscheidende, wie es ihrem Spiel gebührt.
       
       26 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frederic Valin
       
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