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       # taz.de -- Haftantrag für Depressive: Mama sollte in den Knast
       
       > Einer achtfachen Mutter mit Depressionen drohte Gefängnis, weil zwei
       > Kinder Schule schwänzten. Nach taz-Anfrage zog die Bildungsbehörde den
       > Haftantrag zurück
       
   IMG Bild: Noch blöder als Schule schwänzen ist Erzwingungshaft infolge behördlichen Irrsinns
       
       Nadin B.* hat genug Sorgen. Sie hat acht Kinder, Depressionen und
       haufenweise Bußgeldbescheide. Sie hat eine rechtliche Betreuerin, wird vom
       Jugendamt unterstützt und darbt bei Harz IV, Kindergeld und staatlichem
       Mindestunterhalt. Ihre beiden jüngsten Kinder, vier und sechs Jahre alt,
       leben bei ihr. Die übrigen sind entweder volljährig oder in Heimen
       untergebracht.
       
       Frau B. ist wegen ihrer psychischen Probleme nicht in der Lage, sich ihr
       Geld einzuteilen und ihren Kindern die nötige Struktur zu geben. Nicht
       umsonst hat sie seit Geburt ihrer Kinder Familienhilfe vom Bremer
       Jugendamt, deren SozialpädagogInnen teilweise mehrfach täglich
       vorbeischauen. Briefe vom Amt oder Bußgeldbescheide kann B. ohne Hilfe
       nicht lesen, geschweige denn beantworten.
       
       Trotzdem wollte die Bildungsbehörde, dass B. in Erzwingungshaft ging. Der
       Grund: Zwei ihrer Kinder waren nicht zur Schule gegangen, weswegen die
       Stadt zwei Bußgelder in Höhe von 150 und 170 Euro verhängte. Zahlen kann B.
       das Geld nicht. Beim ersten Bußgeld bestand die Bildungsbehörde darauf,
       dass die Frau ins Gefängnis gehen solle. Der Widerspruch zum anderen läuft
       noch.
       
       Ihre rechtliche Betreuerin, Sassa Weyandt, hält das für Wahnsinn: „Wenn
       nicht mal die Sozialarbeiterinnen des Jugendamts, also Profis, es
       hinbekommen, die Kinder in die Schule zu schicken, was kann denn die Mutter
       als Laie machen?“ Bei B. gehe es darum, die Familie so weit zu
       stabilisieren, dass wenigstens die jüngsten Kinder mit Unterstützung des
       Jugendamts bei ihr bleiben könnten.
       
       Eine Ärztin des Amtsgerichts hat Anzeichen von Depressionen und
       Verwahrlosungstendenzen bei B. festgestellt, infolge derer eine rechtliche
       Betreuung erforderlich ist. Seit April 2016 hat die Juristin und
       Sozialpädagogin Weyandt diese übernommen. Die Bußgeld-Bescheide der Stadt
       sorgen seit Monaten für unbezahlte Überstunden, dreimal war sie persönlich
       in der Bildungsbehörde, um den Fall zu schildern, sie hat drei Schreiben
       geschickt und zehnmal dort angerufen. Vergeblich. Die Bildungsbehörde
       beharrt auf den Bußgeldern.
       
       Weyandt hoffte auf Kulanz. Eines der Kinder hatte auch in einer
       Jugendeinrichtung in Rotenburg an der Wümme die Schule geschwänzt. Auch von
       dort bekam B. Bußgeldbescheide und einen Antrag auf Erzwingungshaft.
       Nachdem jedoch Weyandt den dortigen Behörden und dem zuständigen
       Staatsanwalt den Fall erklärt hatte, zeigten diese Verständnis für die
       Problemlage und legten die Bußgelder per Aktenvermerk auf Eis – mit der
       mündlichen Zusage, es verjähren zu belassen.
       
       Anders in Bremen. Weyandt sagt, dass die zuständige Mitarbeiterin in der
       Behörde zwar Verständnis für den Fall gezeigt habe, aber prinzipiell nicht
       bereit gewesen sei, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen: „Die
       Behördenmitarbeiterin hat gesagt: Wenn sie das Bußgeld aufheben würden,
       müssten sie das bei 500 anderen auch machen“, wie Weyandt berichtet, „Ich
       nehme das der Senatorin mittlerweile persönlich übel.“
       
       Immerhin konnte Weyandt beim Rechtspfleger, der formal für die Durchsetzung
       der Erzwingungshaft zuständig ist, einen Aufschub bis Ende September
       erwirken. Dann soll auch bezüglich des zweiten Bußgelds verhandelt werden.
       
       Kurz vor Redaktionsschluss erreichte die taz die Antwort der
       Bildungsbehörde: „Der Antrag auf Erzwingungshaft wurde heute
       zurückgenommen“, sagt eine Sprecherin. Auf dem Bußgeld beharrt die Behörde
       jedoch weiterhin: „Die laufenden Bußgeldverfahren gegen die Betroffene
       unterliegen der gerichtlichen bzw. der weiteren behördlichen Klärung.“
       
       Weyandt hat den Fall inzwischen so oft erklärt, dass sie sich ein Beispiel
       zurecht gelegt hat: „Es ist wie bei einer blinden Person, die bei roter
       Ampel über die Straße geht, wenn es keine akustischen Signale gibt. Sie hat
       rechtlich falsch gehandelt, kann aber nicht dafür verantwortlich gemacht
       werden.“ Vielleicht sollte die Bildungsbehörde darüber noch einmal
       nachdenken.
       
       *Name geändert
       
       28 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gareth Joswig
       
       ## TAGS
       
   DIR Depression
   DIR Betreuung
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   DIR Brennpunktschulen
       
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