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       # taz.de -- Gesichtserkennung in Berlin: Der Wunschtraum des Ministers
       
       > An einem Berliner Bahnhof sollen drei Testsysteme Gesichter erkennen –
       > später auch hilflose Personen, herrenlose Koffer und andere
       > „Gefahrenszenarien“.
       
   IMG Bild: Am Dienstag startet auf dem Berliner S-Bahnhof Südkreuz der Testlauf zur Gesichtserkennung
       
       Freiburg taz | Thomas de Maizière hatte eine Vision. „Wenn ein gesuchter
       Schwerverbrecher in einen Bahnhof geht, dann könnten ihn die Videokameras
       dort sofort erkennen“, sagte er im Sommer vorigen Jahres. Ob sich die
       Vision des Bundesinnenministers realisieren lässt, wird ab 1. August in
       einem Modellversuch in Berlin getestet. Dabei wird sich vermutlich zeigen,
       dass de Maizières Fantasie die Möglichkeiten der Technik deutlich
       überschätzt hat.
       
       Genau genommen sind im Bahnhof Berlin-Südkreuz zwei Versuche geplant. Ab
       Dienstag wird ein halbes Jahr lang die Leistungsfähigkeit von
       Gesichtserkennungssoftware getestet. Später befasst sich ein zweiter Test
       mit Mustererkennung. Dabei sollen etwa hilflose Personen, herrenlose Koffer
       und andere „Gefahrenszenarien“ erkannt werden. Beides zusammen nennt de
       Maizière „intelligente Videoüberwachung“.
       
       Zunächst geht es aber um die Gesichter der Reisenden. Drei speziell
       präparierte Kameras nehmen die Passanten an Eingangstüren in der Westhalle
       und auf einer Rolltreppe auf. Der Bahnhof Südkreuz wird täglich von mehr
       als 100.000 Menschen frequentiert, er ist der drittgrößte Bahnhof Berlins.
       
       Als Testpersonen nehmen rund 300 Pendler teil. Sie haben sich Ende Juni
       nach einem Aufruf der Bundespolizei freiwillig gemeldet. Als Belohnung
       bekommen sie einen Amazon-Gutschein über 25 Euro – wenn sie die
       Versuchsanordnung in sechs Monaten mehr als 25 Mal durchqueren. Die drei
       Personen, die den Testbereich am häufigsten nutzen, erhalten eine
       Smartwatch, eine Fitnessuhr oder eine Kamera. Damit die Polizei weiß, wann
       die Testpersonen tatsächlich im Bahnhof waren, müssen sie einen
       scheckkartengroßen Funksender mit sich führen.
       
       ## Noch geht es nicht um die Suche nach Verbrechern
       
       Vor allem aber mussten sich alle Testpersonen vorab fotografieren lassen.
       Die biometrischen Daten ihrer Fotos befinden sich nun in einer
       Testdatenbank, mit der die Gesichtserkennungssoftware die biometrischen
       Daten aller Passanten vergleicht, die ab 1. August in den Testbereichen
       gefilmt werden. Die Aufnahmen der Passanten werden also ausschließlich mit
       dieser Testdatenbank verglichen und nicht mit polizeilichen
       Fahndungsdatenbanken. Es geht hier nur um eine Technikschau, nicht um die
       Suche nach Verbrechern. Zumindest noch nicht.
       
       Die Gesichtserkennungssysteme, die nun am Südkreuz verglichen werden, hat
       die Bundespolizei von drei Firmen gemietet. Gut ist ein System, wenn es die
       Testpersonen beim Passieren der Kameras möglichst häufig erkennt – und
       zugleich möglichst selten unbeteiligte Passanten für Testpersonen hält und
       dann falschen Alarm auslöst. Wer nicht Teil des Modellversuchs auf dem
       Bahnhof sein will, soll den beschilderten und markierten Testbereich leicht
       umgehen können, so das Innenministerium.
       
       Hält die Technik, was sich Minister de Maizière von ihr verspricht, würde
       das System dann das Bild „eines flüchtigen Terroristen“ in die Software
       einspielen, sagte der Bundesinnenminister vor Kurzem in einem Interview,
       „sodass ein Alarm angeht, wenn er irgendwo an einem Bahnhof auftaucht“. Und
       dann? „Einsatzkräfte können anschließend zielgerichtet Maßnahmen im Rahmen
       der gesetzlichen Möglichkeiten gegen diese Person treffen“, heißt es in
       einer Information der Bundespolizei.
       
       Ob eine solche Fahndung mittels Gesichtserkennung rechtlich möglich ist,
       ist noch nicht geklärt. Ab Mai 2015 verbietet zwar die neue
       EU-Datenschutz-Grundverordnung grundsätzlich die Verarbeitung biometrischer
       Daten. Das gilt aber nicht, wenn die Verarbeitung „aus Gründen eines
       erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich“ ist. Dass der Schutz vor
       Anschlägen ein solches erhebliches öffentliches Interesse darstellt, dürfte
       unstreitig sein. Fraglich ist aber, ob die Fahndung per Gesichtserkennung
       unverhältnismäßig ist, weil ja vor allem Unbeteiligte erfasst werden.
       
       ## De Maizière hofft nun auf den technischen Fortschritt
       
       Eine Vorentscheidung fiel im Jahr 2008, als das Bundesverfassungsgericht
       über eine ähnliche Maßnahme urteilte, den Kfz-Kennzeichen-Abgleich. Hier
       scannt die Polizei alle Nummernschilder vorbeifahrender Autos und
       vergleicht sie mit den Fahndungsdateien. Karlsruhe hielt die Methode für
       zulässig, solange sie nicht „ins Blaue hinein“ genutzt wird, sich also auf
       konkrete Anlässe oder Stichproben beschränkt. Dabei sah das Gericht bei
       normalen Autofahrern, deren Nummernschild kurz gescannt, geprüft und dann
       wieder gelöscht wird, nicht einmal einen Grundrechtseingriff. Ob das
       wirklich richtig ist, will Karlsruhe noch in diesem Jahr überprüfen.
       
       Letztlich wird eine biometrische Gesichtsfahndung aber wohl weniger an
       rechtlichen als an technischen Hürden scheitern. Schon im Jahr 2007 machte
       das Bundeskriminalamt einen ernüchternden Praxistest im Mainzer
       Hauptbahnhof. Die 200 gesuchten Testpersonen konnten zwar bei Tageslicht
       mit über 60 Prozent Wahrscheinlichkeit identifiziert werden – bei Dämmerung
       aber fielen die Werte auf schwache 10 bis 20 Prozent.
       
       De Maizière hofft nun auf den technischen Fortschritt – ignoriert dabei
       aber offensichtlich einen Bericht der US-Normungsbehörde NIST vom März
       2017. NIST prüft regelmäßig die Leistungsfähigkeit von
       Gesichtserkennungssoftware und hat jetzt zum ersten Mal die Auswertung von
       Videoaufnahmen untersucht (Face in Video Evaluation oder FIVE). Dabei
       stellte die Behörde fest, dass das biometrische Erkennen von Menschen auf
       Videoaufnahmen besonders schwierig ist: Personen bewegen sich, es befinden
       sich oft mehrere auf der Aufnahme und Passanten haben – anders als bei
       einer Zugangskontrolle – keinen Grund, mit der Kamera zu kooperieren.
       
       ## Brillen, Hüte oder Make-up tricksen die Technik aus
       
       Gute Ergebnisse können aber nur unter optimalen Bedingungen erzielt werden
       – das heißt insbesondere gutes Licht, gute Auflösung der Kamera und
       Passanten, die auch in die Linse schauen. Schnelle Ergebnisse setzten
       außerdem voraus, dass die Aufnahmen nur mit einer kleinen Datenbank
       abgeglichen werden. Eine biometrische Fahndung müsste sich also tatsächlich
       auf Terroristen, Gefährder und Schwerverbrecher konzentrieren.
       
       Allerdings seien optimale Bedingungen „ein schwierig zu erreichendes Ziel“,
       so der FIVE-Bericht. Schauen Personen etwa permanent nach unten auf ihr
       Smartphone, bekommt die Kamera keine brauchbaren Bilder. Auch Brillen, Hüte
       oder Make-up könnten die Gesichtserkennung behindern. Ganz besonders
       problematisch seien Personen, die die biometrische Kontrolle gezielt
       sabotieren wollen, indem sie zum Beispiel Sonnenbrillen tragen. „Solche
       Techniken können 100-prozentig effektiv sein“, heißt es in dem Bericht.
       
       Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidtplatz, hätte auf seiner
       Flucht nach Italien eine Gesichtserkennung also einfach austricksen können,
       wenn sie schon existiert hätte. Nichts anderes wird voraussichtlich auch
       der Modellversuch am Bahnhof Berlin-Südkreuz ergeben.
       
       31 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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