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       # taz.de -- Nigerias Kampf gegen Boko Haram: Der Terror im Kopf
       
       > Offiziell ist Boko Haram in Nigeria nahezu besiegt, aber die Herrschaft
       > der Islamisten hat Spuren hinterlassen. Der Wiederaufbau fällt aus.
       
   IMG Bild: Hier hat er fast sein ganzes Leben verbracht – Aufschwung nicht in Sicht: Abubakar Mohammad in seiner Heimatstadt Uba
       
       Uba taz | Wer von Yola aus, der Hauptstadt des Bundesstaates Adamawa,
       Richtung Norden fährt, hört irgendwann auf die Checkpoints zu zählen. Ab
       der Kleinstadt Hong werden es immer mehr. So weit in Richtung Süden war vor
       knapp drei Jahren die islamistische Miliz Boko Haram marschiert.
       
       Borno, ihre Hochburg im Norden, hatte sie damals längst in ihrer Gewalt.
       Anschließend gelang es ihr quasi ohne Gegenwehr, auch den Süden zu
       kontrollieren. Heute weht an manchen Checkpoints noch das riesige
       Fahndungsplakat im Wind, das die 100 gefährlichsten Terroristen zeigen
       soll. In der Mitte ist Abubakar Shekau zu sehen, der den größeren Teil der
       Terrorgruppe kontrolliert.
       
       Gerade ist ein neues Video aufgetaucht, in dem Geiseln darum betteln, dass
       Nigeria mit den Terroristen verhandeln möge. Am Freitag starben 14 Menschen
       bei einem Bombenanschlag in der Stadt Dikwa. Am Dienstag kamen mehr als 40
       ums Leben, als Boko-Haram-Kämpfer nahe Maiduguri den Konvoi eines
       Ölkonzerns aus dem Hinterhalt angriffen. Dabei ist die Miliz laut
       nigerianischer Regierung längst besiegt.
       
       Nach möglichen Terroristen durchsucht die Autos an den Straßensperren aber
       niemand, egal, wie voll die Fahrzeuge beladen sind. Es wäre ein leichtes,
       auf den vollgestopften Ladeflächen Waffen, Munition oder Menschen zu
       verstecken. Doch das scheint die Sicherheitskräfte nicht zu interessieren.
       Sie haben ein anderes ausgeklügeltes System entwickelt. Ab und zu sieht
       man, dass ein Fahrer einem Polizisten oder Soldaten einen 500-Naira-Schein
       zusteckt, umgerechnet 1,37 Euro. Kontrolliert wird nirgendwo.
       
       ## Misstrauen gegen Fremde
       
       „Heute ist Markttag und es lohnt sich besonders“, sagt der Fahrer eines
       dunkelblauen Golfs. Er meint damit die Sicherheitskräfte und verzieht das
       Gesicht. Boko Haram ist von hier offiziell vor mehr als zweieinhalb Jahren
       von der Armee verjagt worden. In Sicherheit ist der Norden Adamawas und der
       Süden Bornos deshalb noch lange nicht.
       
       Genau auf der Grenze der Bundesstaaten befindet sich die Kleinstadt Uba.
       Der Teil rechts der Durchgangsstraße gehört zu Adamawa. Wer links abbiegt,
       kommt auf einer Piste nach Chibok, wo im April 2014 276 Schülerinnen
       entführt wurden. Nur etwas mehr als 100 von ihnen sind heute wieder frei,
       ausgetauscht gegen gefangene Boko-Haram-Kämpfer.
       
       Auch in Uba fielen die Terroristen im September 2014 ein, woran auf den
       ersten Blick nichts mehr erinnert. Kinder toben über die sandigen Straßen.
       Eine Gruppe von Frauen verkauft frittierte Bällchen aus Bohnenmehl. Neben
       der Landwirtschaft ist es die einzige Einnahmequelle, die sie haben. An
       einem guten Tag verdienen sie pro Person 500 Naira.
       
       Abubakar Mohammed nickt einer der Frauen zu. Der 29-Jährige ist groß, trägt
       Jeans und ein graues T-Shirt. Das hier ist sein Viertel, in dem er bis auf
       seine Studienzeit in der Provinzhauptstadt Maiduguri, wo er Bank- und
       Finanzwesen lernte, sein ganzes Leben verbracht hat. Man kennt sich, grüßt
       sich und wird misstrauisch, sobald jemand auftaucht, der fremd ist. „Das
       ist seit Boko Haram so“, sagt er und lehnt sich gegen eine staubige
       Häuserwand. In den Köpfen seien die Terroristen bis heute.
       
       ## Die Zahl der Ermordeten? Weiß niemand genau
       
       Das Misstrauen geht so weit, dass Neuankömmlinge dem Bürgermeister gemeldet
       werden. Letztendlich soll er entscheiden, ob sie bleiben dürfen oder nicht.
       „Man kann ja gar nicht wissen, wer das wirklich ist“, sagt Mohammed. Es
       klingt, als wolle er sich rechtfertigen. Die Angst, dass es wieder zu
       Morden, Plünderungen und Vergewaltigungen kommt, ist noch immer da.
       
       Für einen Moment hört er auf zu sprechen, in seinem Kopf läuft jetzt sein
       ganz persönlicher Horrorfilm. Eins ist ihm besonders in Erinnerung
       geblieben: Die Frauen und Kinder, die flüchteten und versuchten, einige
       Habseligkeiten mitzunehmen. Im Bundesstaat Borno leben bis heute 1,4
       Millionen Binnenflüchtlinge, in Adamawa sind es 140.875.
       
       Wie viele Menschen ermordet wurden, lässt sich kaum sagen. Seit 2009, als
       die Miliz ihre Angriffe verschärfte, sollen es mindestens 20.000 gewesen
       sein. Eines der Opfer kannte Mohammed gut: „Als Boko Haram das erste Mal
       nach Uba kam, haben sie einen meiner Freunde erschossen. Ihn traf eine
       Kugel. Er war sofort tot.“ Er versucht, nüchtern zu klingen, doch seine
       Stimme fängt an zu zittern. Sicherheit und Vertrauen sind für ihn zu
       Fremdwörtern geworden.
       
       ## Hochqualifiziert, ohne Job
       
       Der 29-Jährige spielt unruhig mit seinen Händen hin und her. Es ist einer
       dieser Nachmittage, an denen ihn Erinnerungen quälen. Um sich abzulenken,
       will er sich die Beine vertreten, durch sein Viertel laufen. Immerhin hat
       es geregnet. Die meisten Bewohner sind Bauern, sie arbeiten jetzt auf ihren
       Feldern. Anders als am Tschadsee und rund um den Sambisa-Wald ist es
       außerhalb der Ortschaften einigermaßen sicher.
       
       Allerdings fehlt es an Saatgut und Ackergeräten, um die Felder zu bestellen
       und von den Erträgen leben zu können. Dabei sei die Landwirtschaft früher
       durchaus lukrativ gewesen. „Heute funktioniert das alles nicht mehr. Boko
       Haram hat nämlich alles zerstört, was mal da war.“
       
       In Uba plünderten Mitglieder zahlreiche kleine Läden entlang der
       Hauptstraße. Was sie nicht brauchten, wurde verbrannt oder zerschlagen.
       Sichtbar ist das in Uba, anders als etwa in der Stadt Mubi, nicht mehr.
       Dort erinnern bis heute mehrere abgebrannte Bankgebäude an die
       Zerstörungswut. Bei dem Spaziergang durch sein Viertel deutet Mohammed
       unmerklich auf junge Leute. Mal stehen sie zusammen am Straßenrand und
       unterhalten sich; ein paar Mädchen spülen vor dem Haus in großen
       Plastikschüsseln Geschirr. Fließendes Wasser hat keins der Häuser.
       
       ## Der Terror hat den Nordosten erneut zurückgeworfen
       
       Die Region galt jeher als arm und Infrastruktur sowie Bildung als
       schlechter im Vergleich mit südlicheren Landesteilen. Im
       Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen von 2016 zu Nigeria, dem mit 186
       Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Afrikas, hat Borno mit
       durchschnittlich 43 Jahren die niedrigste Lebenserwartung.
       
       Und der Terror hat den Nordosten erneut zurückgeworfen. „Ich habe einen
       Hochschulabschluss. Doch seit ich vor sechs Jahren fertig wurde, hatte ich
       noch nie einen Job“, sagt Mohammed. Er klingt weder verbittert noch hat er
       Hoffnung, in absehbarer Zeit ein festes Einkommen zu erzielen.
       
       Sein Plan war ein anderer. In Uba sind längst keine Mopeds mehr zu sehen,
       die einst in Nigerias Städten das wichtigste Transportmittel waren. Da
       Boko-Haram-Anhänger zu häufig auf Mopeds zu Anschlägen aufbrachen, wurden
       die in vielen Städten verboten. Abubakar Mohammeds persönlicher Horrorfilm
       beginnt nun wieder.
       
       Jetzt kommt darin ein Moped vor, denn einer seiner Freunde wurde 2014
       zweimal von einem Moped angefahren. Die Fahrer waren, so erzählt er es,
       zwei Mitglieder der Terrorgruppe. So hätten sie den Freund gezwungen, sich
       der Gruppe anzuschließen. „Ich schätze, dass es hier um die vierzig waren,
       auf die sie Druck ausgeübt haben. Sie haben sie mitgenommen und zum Teil in
       den Sambisa-Wald gebracht.“
       
       ## Auf Hilfe vom Staat hofft hier niemand mehr
       
       Was dort genau passiert ist, weiß Mohammed nicht. Er will es wohl auch
       nicht wissen. Entscheidend ist für ihn, dass dem Freund nach zwei
       Ausbruchsversuchen die Flucht gelang. Er lässt den Blick über die Straße
       wandern, ohne dass er anhält. Hier irgendwo lebt der Freund wieder. Die
       Angst ist groß, dass er wie andere als einstiger Kämpfer verhaftet wird.
       
       Als die Mopeds mit Boko Haram schließlich aus Uba verschwanden, lieh sich
       Abubakar Mohammed 50.000 Naira (137 Euro). Mit dem Geld wollte er in den
       Fahrradhandel investieren. Als er das erzählt, hat er sich auf die Stufen
       eines Hauses gehockt. Die Idee schien einfach und gut. „Mit dem Geld bin
       ich nach Mubi gefahren und habe drei Räder gekauft, sie nach Uba gebracht
       und wieder verkauft.“ Der Erlös sei mit 2.000 Naira pro Rad minimal
       gewesen, die Kosten für die einstündige Fahrt errechnet er lieber nicht.
       
       Doch auf die Bitte, sein Geschäft zu sehen, schüttelt er mit dem Kopf. Die
       Idee sei gut gewesen, funktionierte aber nicht mehr. „Anfangs waren wir
       vielleicht sieben, die das gemacht haben. Später wurden es 50. Es lohnt
       sich nicht einmal mehr, überhaupt noch nach Mubi zu fahren und nach ein
       paar Fahrrädern Ausschau zu halten.“
       
       Der Traum vom kleinen Geschäft bleibt. Auf die Frage, womit er heute sein
       Geld verdient, schweigt Abubakar Mohammed. „Ich würde mir wünschen, dass
       uns NGOs helfen könnten. Würden sie uns mit Startkapital unterstützen, dann
       könnten wir etwas aufbauen.“ Es ist bezeichnend, dass er eher von
       nichtstaatlichen Organisationen Unterstützung erwartet als von Nigerias
       Regierung.
       
       Vom kranken Präsidenten Muhammadu Buhari erhofft er sich nur eins: „Er
       sollte mal zu uns kommen und selbst sehen, wie arm die Menschen hier sind.“
       Dass der 74-Jährige auch etwas ändern wird, davon geht der junge Mann
       längst nicht mehr aus.
       
       3 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Gänsler
       
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