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       # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: In der zusammengestürzten Halle
       
       > Das 19. Jahrhundert von Richard Wagner und Karl Marx ist noch lange nicht
       > vorbei. Das Kapitalverhältnis prägt weiter menschliche Beziehungen.
       
   IMG Bild: Antisemitismus ist bei ihm immer im Spiel: Richard Wagner
       
       Wagner und kein Ende – die [1][Inszenierung der Meistersinger durch den
       australischen Regisseur Barrie Kosky] hat ein weiteres Mal die
       unauslöschlich antisemitische Prägung seines Werks nachgewiesen. Gleichwohl
       wähnte sich Wagner nicht zu Unrecht als „Antikapitalist“, was schon dem
       britischen Autor George Bernard Shaw aufgefallen ist. Er schrieb mit Blick
       auf den „Ring“ schon 1898 von einer Entwicklung, die alle höheren Triebe
       des Menschen als rebellisch unterdrückt.
       
       „Wie unvermeidlich diese Entwicklung für uns geworden ist“, so Shaw, „wird
       all denen klar sein, die zu begreifen vermögen, was ihnen der Anblick der
       plutokratischen Gesellschaft unserer modernen Großstädte zeigt.“
       
       Der Begriff der „Gentrifizierung“ war ihm damals noch nicht zur Hand. Shaw
       jedenfalls hielt englischen Feingeistern, die behaupteten, Wagner habe
       niemals „von Aktionären, Zylindern, Bleiweißfabriken und von industriellen
       und politischen Problemen aus sozialistischer oder humanitärer Sicht
       geträumt“, entgegen, dass sie schlicht blind seien.
       
       Und, ja, auch Antisemitismus ist in diesem Diskurs immer mit im Spiel. So
       heißt es in einer theoretischen Schrift: „Wir erkennen also im Judentum ein
       allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element.“ Mehr noch: „Das Geld ist
       der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf … Was
       in der jüdischen Religion abstrakt liegt, die Verachtung der Theorie, der
       Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck, das ist der wirklich
       bewusste Standpunkt, die Tugend des Geldmenschen. Das Gattungsverhältnis
       selbst, das Verhältnis von Mann und Weib wird zu einem Handelsgegenstand.
       Das Weib wird verschachert.“
       
       Um nichts anderes geht es im „Rheingold“, wo Freia, die Göttin der Jugend
       und Anmut, als Lohn für das Erbauen von Walhall an die Riesen Fasolt und
       Fafner verkauft werden soll – an zwei tumbe Narren, die schließlich von
       Freia lassen, um sich mit dem gestohlenen Rheingold zufriedenzugeben. Die
       Götter also Juden?
       
       ## Schriften von Karl Marx
       
       Doch halt, stopp – einigen LeserInnen wird es aufgefallen sein –, bei den
       zuletzt zitierten Sätzen handelt es sich gar nicht um Auszüge aus Wagners
       „Das Judentum in der Musik“, sondern um Sätze aus Schriften von Karl Marx
       zur „Judenfrage“, die dieser in den frühen 1840er Jahren im Pariser Exil
       verfasste – in einer Zeit, als auch Wagner als politischer Emigrant
       daselbst Zuflucht suchte. Noch im „Kapital“ faselte Marx davon, dass Waren
       „innerlich beschnittene Juden“ seien.
       
       Auf jeden Fall ist das von Wagner im Vorgriff analysierte 20. Jahrhundert
       noch lange nicht zu Ende. Tatsächlich: die Götterdämmerung, der Weltenbrand
       – sie haben sich mit Auschwitz und dem Menetekel von Hiroschima tatsächlich
       ereignet.
       
       Zu den Ursachen, die es bis heute gibt, hat wiederum Shaw die richtigen
       Worte gefunden: „Womit wir zu tun haben, ist eine Masse von Menschen – (…)
       deren große Mehrheit zwar fähig ist, ihre persönlichen Angelegenheiten zu
       regeln, nicht aber, soziale Organisation zu begreifen oder die Probleme
       ernstlich in Angriff zu nehmen, die sich durch die Ansammlung großer
       Menschenmassen ergeben.“
       
       ## Neoliberalismus und Postwachstumskapitalismus
       
       Aus größerer Distanz betrachtet ist Marxens und Wagners 19. Jahrhundert
       noch lange nicht vorbei. Nach wie vor prägt das Kapitalverhältnis – nun in
       Form von Neoliberalismus und Postwachstumskapitalismus – die menschlichen
       Beziehungen, nun allerdings – und das ist neu – global; mehr denn je sind
       wir auf Analysen des individuellen und gesellschaftlichen Unbewussten
       angewiesen, wie sie die zutiefst im 19. Jahrhundert wurzelnde Psychoanalyse
       Sigmund Freuds und ihr ihr vorausgehendes musikalisches Pendant, Wagners
       Leitmotivik, in einem anderen Medium zum Ausdruck bringen; deutlicher als
       noch im 20. Jahrhundert ist uns die ökologische Krise, die im „Rheingold“,
       in der Geschichte von Alberich und den Rheintöchtern, in genialer Weise
       vorausgeahnt wurde, bewusst geworden.
       
       Nicht zuletzt sind wir nach wie vor – zuletzt erst hoffend, dann
       enttäuscht, während des Arabischen Frühlings Zeugen jener demokratischen
       Hoffnung geworden, die Wagner in der letzten Regieanweisung der
       „Götterdämmerung“ notiert hatte: „Aus den Trümmern der zusammengestürzten
       Halle sehen die Männer und Frauen, in höchster Ergriffenheit, dem
       wachsenden Feuerscheine am Himmel zu (…) Als die Götter von den Flammen
       gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.“
       
       Indes: die Götter sind lediglich verhüllt, nicht verbrannt, um nur einige
       Beispiele zu nennen: von den USA über die Türkei, Polen und Ungarn
       beobachten wir eine pöbelhafte Resakralisierung der Politik.
       
       1 Aug 2017
       
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