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       # taz.de -- Die Wahrheit: Lob des Lappens, Fluch dem Fetzen
       
       > Die große Wahrheit-Sommer-Debatte über Organe. Folge 2: Die Leber. Ein
       > Pro und Contra zu dem drüsigen Ding.
       
       ## Warum das Ding in unserem Bauch geliebt werden muss
       
       Jahrelang wohnte der Autor dieser Zeilen in der „Leber“, wie der Berliner
       sagt, der gern das Wort „Straße“ weglässt. Sie liegt auf der „Roten Insel“
       in Schöneberg und ist benannt nach dem Widerstandskämpfer Julius Leber –
       genau wie das gleichnamige tapfere Organ, das es zu rühmen gilt, weil es
       auch eine Art Widerstandskämpfer ist.
       
       Durch die Leber geht keine Liebe wie durch den Magen, sie produziert keine
       Geistesblitze wie das Hirn, dafür rutscht sie aber auch nicht so schnell in
       die Hose wie das Herz. Die Leber ist die größte Körperdrüse und macht die
       meisten Gifte unschädlich. Zu Recht liegt sie nahe und unter dem
       Zwerchfell, dem sie ständig Futter für ausgiebiges Gelächter gibt. Ohne die
       Leber hätte der Mensch rein gar nichts zu lachen.
       
       Stattdessen ermöglicht sie das gute Leben. Allein die herrlichen Speisen,
       die wir der Leber verdanken: der Leberkäse, dessen weltgrößtes Exemplar im
       Jahr 2016 in Ulm aus satten 1,3 Tonnen Brät hergestellt wurde und dessen
       161,53 Meter Länge exakt der Höhe des ortsansässigen Münsters entsprach.
       Oder die Leberwurst, die nicht umsonst in der Literatur auch „Lebenswurst“
       (Walter Kempowski) genannt wird und in ihrer höchsten Vollendung, also in
       französischer Entenform als Pâté de foie de canard daherkommt. Dazu einen
       Kir Royal – und sämtliche Organe befinden sich rapido in einem dämmrigen
       Glückszustand. Bis auf die Leber, die arbeiten muss, während alle anderen
       feiern.
       
       Man darf es allerdings nicht übertreiben wie Larry Hagman, der seine Rolle
       als trinkender Bösewicht J. R. Ewing in der Fernsehserie „Dallas“ zu ernst
       nahm und nach einem ausschweifenden Leben eine Lebertransplantation
       brauchte: „Fünf Flaschen Champagner am Tag. Manchmal denke ich, ich habe
       von den Achtzigern nicht viel mitbekommen.“
       
       Selbst die Auswirkungen der Leber auf die Musikwelt sind nicht zu
       unterschätzen. Zwar wird sie nicht wie das Herz oder manch reizvolles
       Körperteil in schmalzigen Balladen oder schmissigen Babbeleien besungen,
       aber dafür ist das Leberbecken die Quelle der modernen Popmusik, stammen
       doch die Beatles aus Liverpool.
       
       Seit Langem gilt die Leber vielmehr noch als Ursprungsort aller Sagen und
       Mythen und somit als Born jeden literarischen Erzählens. Wer kennt nicht
       das „Lebermeer“, jenes in der mittelalterlichen Sage geronnene Meer des
       Nordens, in dem die Schiffe schwer symbolisch nicht von der Stelle kommen?
       Von ihm erzählt zuerst in der Antike Pytheas von Marseille, den Arno
       Schmidt in seiner Erzählung „Gadir“ unsterblich wie Prometheus macht. Dem
       griechischen Helden wiederum frisst ein Adler täglich die Leber weg, die
       dem mutigen Rebellen jedoch stets nachwächst, auf dass er seine
       Gefangenschaft schließlich überlebt und vom Menschen zum Gott wird und sich
       damit von den alles beherrschenden Altvorderen der Religion emanzipiert.
       Ein revolutionärer Akt und gesellschaftlicher Fortschritt, der ohne eine
       widerstandsfähige Leber niemals möglich gewesen wäre.
       
       „Die Leber ist kein Bett aus Rosen“, sagte Fidel Castro einmal so oder so
       ähnlich. Sie ist das Ruhrgebiet der Organe und wirkt deshalb mitunter wie
       der Kerker des Körpers. Ihr intensiver Arbeits- und Überlebenskampf macht
       manchen Innereienbesitzern Angst. Aber nur wer das Gefängnis kennt, kann
       ihm entrinnen. Deshalb gilt der unscheinbare braune Fetzen, der an einen
       schmutzigen Putzlappen erinnert, als Hort der selbstgewählten Freiheit, was
       ihm eher innere Schönheit verleiht.
       
       Aus diesem festen Grund erheben wir unser volles Glas zu Ehren der Leber:
       Möge sie ewig leben! Darauf einen Dujardoint! (Michael Ringel)
       
       ***
       
       ## Warum das Ding in unserem Bauch verdammt werden muss
       
       Sicherlich, auf den ersten Blick scheint die Leber zu den Guten zu gehören.
       Tagein, tagaus ist sie damit beschäftigt, den Körper zu entgiften,
       speichert allerlei Vitamine, und mit Zwiebeln gebraten schmeckt sie zudem
       ausgesprochen ansprechend. Außerdem sei zugestanden, dass die Leber unsere
       größte Drüse ist.
       
       Aber schon bei etwas näherer Betrachtung zeigt die schöne Fassade Risse.
       Beziehungsweise Lappen. Genau daraus besteht sie nämlich: aus schmierigen
       Lappen. Und mit diesen Schmierlappen produziert sie allerlei Zeugs und
       Sekrete, darunter so übel beleumundete wie Cholesterin und die
       Gallenflüssigkeit. Was passiert, wenn Letztere überläuft, ist allgemein
       bekannt. Das Wort „Choleriker“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet
       gelbgallig, hergeleitet ist es vom Altgriechischen „cholé“ für Galle.
       
       Schon im Altertum wusste man also, dass aus der Leber nichts Gutes kommt.
       Kaum läuft mal eine einzige winzige Laus über sie, ist es vorbei mit dem
       schönen Schein, dann schnappt sie ein und wird zur beleidigten Wurst ihrer
       selbst. Wann immer jemand frei von der Leber weg redet, „as we say in
       German“ (Günther Oettinger), darf man sich alles Mögliche anhören über
       Schlitzaugen und Pflicht-Homo-Ehe, über Ausländer, die uns die Frauen und
       die Arbeitsplätze wegnehmen, über die da oben, die ja doch machen, was sie
       wollen, über die Lügenpresse, darüber, dass die Moslems hier nichts
       verloren haben und dass man Israel in Deutschland nicht kritisieren darf,
       dass hinter allem Amerika, die Juden, die Klimaforscher und der
       Gender-Wahnsinn stecken, aber dass man das alles nicht mehr sagen darf
       heutzutage.
       
       Aber damit nicht genug. Jeder Leberfleck birgt das Risiko, sich jederzeit
       in bösartige maligne Krebszellen verwandeln zu können. Wie bösartig, kann
       man an den Verheerungen beobachten, die Wucherungen der Leber bereits
       verursacht haben. So haben sie Eckart von Hirschhausen („Die Leber wächst
       mit ihren Aufgaben“) und Mike Krüger („Geld oder Leber“) zu Ruhm und
       Reichtum verholfen und dazu beigetragen, dass solche Spaßvögel durch alle
       TV-Programme metastasieren können.
       
       Ein perfider Plan. Auf diese Weise treibt die Leber Menschen mit
       einigermaßen intaktem Intellekt und ästhetischem Empfinden in den
       Alkoholkonsum, und dann schlägt sie erbarmungslos zu: Kaum trinkt man mal
       ein, zwei Gläser zu viel (pro Stunde), verfettet sie erst, verhärtet dann,
       tritt bald darauf in den Streik und stellt ihr Opfer mit gelber Haut- und
       Augenfärbung in aller Öffentlichkeit bloß wie ein Bild-Leserreporter, bevor
       sie es anschließend elendig krepieren lässt.
       
       Zusammengefasst betrachtet: Großmannssucht, Schmierlappen, Galle, Sekrete,
       Choleriker, wüstes Geschrei, gelber Kopf – die Leber, man muss den
       Tatsachen einfach ins Auge sehen, sie ist nichts anderes als der Donald
       Trump unseres Körpers. Es wäre also höchste Zeit, dass der menschliche
       Organismus endlich ein Impeachment-Verfahren gegen sie anstrengt und sich
       dieses Schadorgans ein für alle Mal entledigt.
       
       Daran allerdings sind schon ganz andere gescheitert. Zeus höchstselbst
       probierte es einst, in dem er die Nervensäge Prometheus im Kaukasus an
       einen Berg fesselte und Adler kommen ließ, die ihm die Leber herausrupften.
       Vergebens. Das Ding war schneller regeneriert, als die Vögel fressen
       konnten. Im Ergebnis kam Prometheus irgendwann frei und konnte ungestört
       weitermachen wie zuvor, Adler dagegen stehen weltweit kurz vor dem
       Aussterben.
       
       Hoffen wir mal, dass das kein böses Omen in Sachen Trump ist. Sag ich mal,
       so frei von der Leber weg. (Heiko Werning)
       
       21 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Ringel
   DIR Heiko Werning
       
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