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       # taz.de -- Biopic über Alberto Giacometti: Zur Stärkung Eier und Wein
       
       > Ein Kammerspiel über Alberto Giacometti, die Freundschaft und die Leiden
       > des Künstlers im Kino: „Final Portrait“ von Stanley Tucci.
       
   IMG Bild: Armie Hammer und Geoffrey Rush im liebevoll nachgebauten Atelier Giacomettis
       
       „Oh Fuckque!“, brüllt Alberto Giacometti die Leinwand an, „Fuckque!“ Dass
       der Schweizer Künstler seine Flüche ausgerechnet in Englisch radebricht,
       liegt daran, dass ihm ein Native Speaker Modell sitzt: Der US-amerikanische
       Autor, Journalist und Künstlerbiograf James Lord wurde von Giacometti 1964
       in dessen Studio in Paris porträtiert – auf Giacomettis letztem Gemälde.
       
       „Final Portrait“ erzählt die Geschichte dieser Sitzung, die ausartet –
       anstatt das Bild, wie versprochen, an einem Nachmittag fertigzustellen,
       überredet der damals 63-jährige Künstler den freundlichen jungen Amerikaner
       (Armie Hammer) immer wieder, den Rückflug nach New York zu verschieben. Und
       nimmt ihm bald die letzte Hoffnung, schnell aus der Sache herauszukommen.
       So ein Porträt, erklärt Giacometti (Geoffrey Rush), sei eh unmöglich zu
       beenden: „Es ist nur ein Versuch.“
       
       Aus Tagen werden schließlich Wochen. Doch das Bild, das durch Lords Abreise
       nach 18 Sitzungen zwangsweise zum Abschluss gebracht wird, ist durch Lords
       Essay über seine Sessions bei Giacometti eines der bestdokumentierten Werke
       des Malers und Bildhauers. Und die Langwierigkeit seines Entstehens konnte
       der Freundschaft der beiden Männer eh nichts anhaben.
       
       ## Ein Studio im 14. Arrondissment
       
       Dabei fußte der Ruhm Giacomettis eigentlich mehr auf seinen dürren
       Skulpturen als auf Bildern. Regisseur und Drehbuchautor Stanley Tucci hat
       die aus einer früheren Phase stammenden Miniaturen darum genauso eingebaut
       wie die großen, langgestreckten, in ihrer Haltung Giacomettis Referenz an
       altägyptische Kunst widerspiegelnden, charakteristischen Figuren.
       
       Sein Kammerspiel siedelt Tucci fast ausschließlich in Giacomettis
       chaotischem Studio im 14. Arrondissement an, das der Künstler zusammen mit
       seinem Bruder Diego (der dort von einer Dachwohnung aus Albertos Geschäfte
       organisierte) bereits 1926 bezog und in dem er bis zu seinem Tod Kette
       rauchte und zwischen Hunderten von Werken an neuen arbeitete.
       
       Hier gehen im Jahr 1964 neben Giacometti und seinem Bruder (gespielt von
       „Monk“ Tony Shalhoub) auch Giacomettis Ehefrau Annette (Sylvie Testud) ein
       und aus, die Kummer gewöhnt ist: Ihr launischer Mann hat seit Jahren ein
       öffentliches Techtelmechtel mit der flatterhaften jungen Prostituierten
       Caroline (Clémence Poésy). Lord, der das alles beobachtet und zwischendurch
       mit Giacometti zur Stärkung Eier und Wein schnabulieren gehen muss, lässt
       sich dabei in höflicher Zurückhaltung nicht auf Urteile ein.
       
       ## Der staunende Blick auf den Schaffensprozess
       
       Der homosexuelle Autor, dessen Œuvre neben dem Essay auch eine elementare
       Giacometti-Biografie und Memoiren über seine Erfahrungen als schwuler Mann
       im Zweiten Weltkrieg umfasst, wird von Tucci als staunendes, geduldiges,
       sehr amerikanisches Gegenstück zum chaotischen Giacometti dargestellt:
       Tucci schneidet Großaufnahmen der blanken, glatten Stirn Lords neben die
       grau-schwarzen, wirr scheinenden Striche, mit denen Giacometti des Freundes
       Stirn zu fassen versucht, um den Schaffensprozess damit greifbar zu machen.
       
       Was aber Giacometti wirklich sucht, worum er ringt, wieso er immer wieder
       fluchend alles übermalt und neu macht, das kann Lord – als Sinnbild des
       beobachtenden Zuschauers – nur ahnen: „Es ist schockierend, was für ein
       Eigenleben das Bild zu entwickeln scheint“, sagt er irgendwann fassungslos
       zu Annette.
       
       Wie atmosphärisch und genau Tuccis Bühnenbildner und Ausstatter dabei das
       verstaubte, vollgestellte Tageslicht-Atelier gestaltet haben, in dem man
       den Nikotin- und Farblöser-Mief zu riechen scheint und in dem nur Annettes
       gelber Mantel oder Carolines roter Lippenstift ab und an einmal einen
       Farbtropfen ins Graubeige der Kunst klecksen, und wie elegant zudem der „A
       King’s Speech“-Kameramann Danny Cohen sich zwischen den halbfertigen,
       übereinandergestapelten Figurinen bewegt, das macht viel Spaß.
       
       Genauso wie Rushs gewohnt leidenschaftliche Spielweise. Die herzhaften
       „Fuckques!“ lassen sogar über sein ansonsten eher englisch klingendes
       Französisch hinwegsehen – trotz Ü-Problem ist er ein absolut überzeugender
       Giacometti.
       
       ## Akkordeon? Paris!
       
       Dennoch fällt Tucci zu oft in die Haltung des schmunzelnd-staunenden
       Außenstehenden, der bereit ist, alles anzunehmen, wenn es in sein
       Künstlerklischee passt. Dieser Tatsache ist auch die mit Akkordeon (für
       Paris-Atmosphäre!) angereicherte Musik geschuldet, die den Film
       komödiantischer macht, als er zu sein braucht.
       
       Wie jemand mit einem nur leicht unterschiedlichen Standpunkt eine ähnliche
       Geschichte, ähnlich konzentriert auf die Entstehung eines einzelnen
       Kunstwerks und sogar mit direktem Bezug zu Giacometti erzählt, kann man ab
       Ende August in Jacques Doillons „Rodin“ über Auguste Rodin sehen, dessen
       Schüler Antoine Bourdelle ein wichtiger Lehrer für Giacometti war: Gegen
       Doillons Rodin und seine schwierige Liebe Camille Claudel wirken Tuccis Vin
       rouge süffelnder, sympathisch schimpfender Giacometti und seine
       Stichwortgeber wie eine Komödiantentruppe.
       
       Aber vielleicht hatte der Schweizer, der seine Millionen – ganz untypisch!
       – laut Lord und Tucci teilweise in Päckchen irgendwo ins Atelier
       schleuderte, auch einfach mehr zu lachen. Der leidende Künstler ist
       schließlich das größte aller Klischees.
       
       3 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
       ## TAGS
       
   DIR Moderne
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   DIR Expressionismus
       
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