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       # taz.de -- taz-Serie Marzahn-Hellersdorf: Ein Kaufhaus für alle
       
       > Iris Köhler hat etwas gegen das Wegwerfen von guter Kleidung und
       > funktionierenden Haushaltsgegenständen. Deshalb gründete sie ihr eigenes
       > Sozialkaufhaus in Biesdorf.
       
   IMG Bild: Dass die Leute vieles wegwerfen, was noch benutzt werden könnte, regt Iris Köhler auf
       
       Es ist ein zufälliger Fingerzeig ironischer Art: In der Ecke mit den
       Puzzles, Brettspielen und einem Plüschbären liegt das Strategiespiel. „Was
       kostet die Welt?“. Es geht dabei darum, Rohstoffe zu ergattern, um damit
       reich zu werden. Ressourcenschonend klingt das nicht.
       
       Iris Köhler würde „Was kostet die Welt?“ sicher nie spielen. Verkaufen
       würde sie es schon. Schließlich ist das ihr Job. Es gibt derzeit nur ein
       Problem: Ihr fehlen die Kunden. Das im November vergangenen Jahres von Iris
       Köhler eröffnete „Soziale Kaufhaus“ trägt den schönen wie sinnfälligen
       Namen „… wird noch gebraucht“. Es liegt in Biesdorf, einem Ortsteil von
       Marzahn-Hellersdorf, am viel befahrenen Blumberger Damm, wo es kaum
       Laufkundschaft gibt.
       
       Der Name des Sozialkaufhauses passt zu einer Person wie Iris Köhler und
       ihrem Lebenslauf, ihren Ansichten und Haltungen. Sie ist gebürtige
       Biesdorferin, hat zu DDR-Zeiten Gärtnerin gelernt und später als
       Verkäuferin und Kellnerin gearbeitet. „Ich brauche den direkten Kontakt zu
       Menschen, die Kommunikation“, erklärt die 58-Jährige, „ich bin eine
       Plaudertasche.“
       
       ## Recycling-Idee aus der DDR
       
       Mit über 50 Jahren ist Iris Köhler arbeitslos geworden, weil sie angeblich
       nicht mehr ins „junge und dynamische Team“ eines gastronomischen Betriebes
       passte. Sie schrieb Bewerbung für Bewerbung und hatte es irgendwann satt,
       auf eine Neuanstellung zu hoffen. Und besann sich auf eine Methode aus
       DDR-Zeiten namens „SERO“ – die Abkürzung stand für
       Sekundärrohstofferfassung. „Das war ein tolles System“, sagt Iris Köhler,
       „wir gingen damals mit Rohstoffen eben anders um.“ Notgedrungen, muss man
       hinzufügen, war die DDR doch ein rohstoffarmes Land.
       
       Deshalb gab es ein landesweites System von Annahmestellen, in denen
       Altglas, Altpapier, Schrott und andere Wertstoffe aufgekauft wurden.
       Einerseits bescherte das Schülern oder Rentnern ein Taschengeld oder
       Zubrot. Andererseits landeten wertvolle Altstoffe nicht in der Mülltonne
       sondern im Rückführungskreislauf der Industrie. Heutzutage würde man das
       nachhaltig nennen.
       
       „Wenn ich sehe, was alles in der Mülltonne liegt, dass die Leute vieles
       wegwerfen, was noch gut ist und funktioniert und benutzt werden könnte“,
       echauffiert sich Iris Köhler, „kann ich mich aufregen. Das tut mir weh.“
       
       So kam ihr die Idee, ein Kaufhaus zu gründen, in dem es all diese Dinge,
       die man noch gebrauchen kann, für wirklich kleines Geld zu kaufen gibt. Den
       Plan dazu hatte sie mit ihrem erwachsenen Sohn Patrik besprochen. Der
       meinte zustimmend: „Das ist genau dein Ding, das bist du!“
       
       ## „Das müssen Sie alles selber machen“
       
       Was dann folgt, können sicher auch andere Existenzgründer berichten: Iris
       Köhler begibt sich auf Behördenpfade und hört immer wieder, „wie super die
       Geschäftsidee“ wäre. Eine „konkrete Unterstützung gab es aber nirgends“,
       resümiert sie. „Das müssen Sie alles selber machen“, hieß es immer wieder.
       
       Das tat sie: Die Standortsuche entpuppte sich als schwierig, auch weil Iris
       Köhler kein Startkapital hatte. In ihrem Heimatkiez wurde sie schließlich
       fündig, eine alte aus DDR-Zeit stammende Baracke wurde ihr Domizil. „Ich
       hätte zwar gerne mehr Platz“, räumt sie ein, „aber das würde ich dann nicht
       mehr bezahlen können.“ Dafür gibt es Parkmöglichkeiten vor der Tür, vier
       Buslinien und eine U-Bahn sind nicht weit. Die Baracke brachte sie zusammen
       mit ihren Sohn auf Vordermann. Ihre Nachbarn sind kleine Firmen und
       Handwerker.
       
       Seit das Bezirks-Journal im Januar über das Sozialkaufhaus berichtet hatte,
       kann sich Iris Köhler vor Waren aller Art kaum retten. Viele Leute würden
       „sich freuen, wenn sie Möbel oder Kleidung nicht mehr wegwerfen oder auf
       ewig im Keller lagern“ müssten. „An Nachschub mangelt es nicht“, sagt Iris
       Köhler, zumal sie einen kostenlosen Abholservice anbietet.
       
       Und tatsächlich scheint das Sozialkaufhaus aus allen Nähten zu platzen, so
       voll ist es. Große Einrichtungsgegenstände stehen neben kleinen. Möbel,
       Lampen, Geschirr und andere Haushaltsgegenstände, Kinderspielzeug und
       Schuhe, Bekleidungsstücke aller Art und Marken, Bettwäsche und Bücher,
       Uhren, Dekoartikel und Nippes. Nichts ist kaputt oder angeschlagen, alles
       heil, funktionstüchtig und sauber. Ja, etliche Sachen stecken noch in der
       Originalverpackung, weil nie getragen oder nie benutzt. Eine komplette
       Schrankwand gibt es schon mal für 40 oder einen Brotbackautomaten für 15
       Euro.
       
       ## „Ich bin eben Einzelkämpferin“
       
       Was Iris Köhler braucht sind Kunden, mehr als bisher. „Ich bin ja
       selbständig“, unterstreicht sie noch mal. „Nach Feierabend verteile ich
       Flyer oder hole Waren ab. Ich bin eben Einzelkämpferin.“ Und zwar eine
       optimistische: Wenn es eines Tages richtig gut läuft, kann sie sich
       vorstellen, jemanden einzustellen, Langzeitarbeitslose zum Beispiel.
       
       In den Daten des aktuellen Regionalberichts Berlin und Brandenburg und auch
       im Sozialbericht des Bezirksamtes stellt sich der Bezirk
       Marzahn-Hellersdorf eher als durchschnittlich dar, was das Thema Armut
       anbelangt. „Der Bezirk ist weder ein sehr armer, noch ein sehr reicher
       Bezirk“, sagt Susanne Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der
       Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, die in Hellersdorf
       ihren Sitz hat. Gerull forscht unter anderem zu Armut, Arbeitslosigkeit und
       Wohnungslosigkeit.
       
       „Die Armutsquote war in Marzahn-Hellersdorf im Vergleich zu Gesamtberlin um
       0,2 Prozent etwas geringer als im Durchschnitt, der 2014 für Gesamt-Berlin
       bei 14,1 Prozent lag“, sagt Gerull, die sich auf Zahlen von 2014 und 2015
       beziehen kann (aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor). Dagegen ist der
       Anteil an SozialleistungsbezieherInnen deutlich überdurchschnittlich (2014:
       21,4 Prozent versus 19,2 Prozent) und auch die Kinderarmut ist in
       Marzahn-Hellersdorf im Vergleich zu Gesamt-Berlin sehr hoch.
       
       Insgesamt betrachtet, ist „die Ungleichheit, also die Schere zwischen Arm
       und Reich, hier geringer als in Gesamt-Berlin“, sagt Susanne Gerull. „Was
       für mich recht logisch ist, war das vor der Wende doch ein eher gut
       situierter Bezirk. Erst nach dem Mauerfall zogen hier Migranten und andere
       Benachteiligte her, weil die Mieten dort noch niedrig waren.“ Generell sei
       Marzahn-Hellersdorf jedoch ein Bezirk, der sich derzeit stark verändere.
       Noch immer würden Jüngere wegziehen, die Älteren aber bleiben.
       
       ## Der Bedarf sollte da sein
       
       Susanne Gerull weiß das auch von ihrem Spezialgebiet, der
       Wohnungslosenhilfe, zu berichten. „Es gab eine Verschiebung von sozial
       Benachteiligten, die aus ganz Berlin hier her an den Stadtrand zogen, weil
       sie sich die Innenstadt nicht mehr leisten konnten. Die Gentrifizierung hat
       inzwischen so durchgeschlagen, dass meine Kollegen von der Wohnungshilfe
       sagen, dass sie selbst hier gar keine Wohnungen mehr für ihre Wohnungslosen
       bekommen können.“
       
       Aber würde das nicht auch mehr Kundschaft fürs Sozialkaufhaus bedeuten: Der
       Bedarf sollte da sein, schätzt auch Iris Köhler die Lage ein. In
       Marzahn-Hellersdorf „haben es die wenigstens dicke“, der Bezirk wäre ja
       nicht „als einer der reichsten verschrien, eine Wohlstandsgegend ist das
       hier nicht“. Im Gegenteil: „Es gibt immer mehr Betroffene.“ Deshalb kann
       jeder bei ihr einkaufen. Und wer ganz wenig und einen entsprechenden
       Nachweis hat, bekommt noch mal 20 Prozent Rabatt.
       
       Uwe Pautz ist zum ersten Mal im Sozialkaufhaus und nicht auf den Rabatt
       angewiesen. Er habe mal im öffentlichen Dienst gearbeitet, wohnt „hier ums
       Eck“, wie er erzählt, und hat das Geschäft erst vor kurzem entdeckt. Jetzt
       wolle er mal schauen, was es hier so gibt. Und er wird fündig.
       
       Pautz sucht sich sechs kleine Bilder heraus und auch ein großes. „Ich
       brauche die Rahmen“, erklärt der Rentner, der seit ein paar Jahren malt und
       schon einige Male ausgestellt hat. Beim Preis für die große Leinwand
       feilscht er ein bisschen, Käufer und Verkäuferin werden sich schließlich
       einig. „Vielleicht komme ich jetzt öfter“, sagt Uwe Pautz und fährt mit
       seinen Bildern auf dem Rad von dannen.
       
       Sozialkaufhaus „Wird noch gebraucht“: Blumberger Damm 16, 12683 Berlin;
       Öffnungszeiten: Mo bis Fr 10 bis18 Uhr, Sa 10 bis 14 Uhr; Telefon: 0177/36
       98 354.
       
       3 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hergeth
       
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