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       # taz.de -- Kochtrend „Foodpairing“: Die Nase isst mit
       
       > Lachs und Lakritze können ziemlich beste Freunde sein. Beim Foodpairing
       > schaffen ungewöhnliche Kombis geschmackliche Sensationen.
       
   IMG Bild: Kirsche auf Makrele? Und wie das passt!
       
       Flusskrebs – Mangold – Ei. Oder Karotte – Tomate – Buchweizen? Auf modernen
       Speisekarten stehen immer öfter solche Trios. Als Gast kann man da schon
       mal mit einem lauten „Hä?“ reagieren. Wie soll man bestellen, wenn die
       Menükarte mehr Fragen aufwirft als beantwortet?
       
       Wer in ein solches Lokal gerät, darf annehmen, dass sich der Chefkoch oder
       die Chefköchin mit den neuen gustatorischen Erkenntnissen der Wissenschaft
       auseinandergesetzt hat. Oder genauer: mit „Foodpairing“, einer
       Inspirationsquelle für Köche, Sommeliers und Barkeeper bei der Entwicklung
       neuer Gerichte und Drinks.
       
       Auf dem Teller gibt es ganz klassische Ehen: Tomate und Basilikum, Gurke
       und Lachs, Schinken und Ei, Bratwurst und Senf. Dass sie zusammengehören,
       erscheint jedem selbstverständlich. Aber warum? Und könnte es nicht auch
       ganz andere Kombinationen geben, die sich, wenn auch ungewohnt, ganz
       ausdrücklich vertragen? Erdbeeren mit Dill, Hummer mit Vanille, Alge mit
       Schwein oder Schokomuffins mit Gorgonzola?
       
       Dass sie es können, davon hat vor allem einer die kulinarische Welt
       überzeugt: Heston Blumenthal. Als einer der ersten Spitzenköche befasste er
       sich intensiv mit Foodpairing. In seinem legendären Restaurant „The Fat
       Duck“ experimentierte er gemeinsam mit dem Lebensmitteltechniker François
       Benzi mit zahlreichen Zutaten, und schon 1992 überraschte er seine Gäste
       mit einer ungewöhnlichen Dessertkreation: weißer Schokolade mit Kaviar.
       
       ## Die Riechschleimhaut kennt über 10.000 Aromen
       
       Dass solche Paarungen gelingen, kann die Wissenschaft inzwischen erklären.
       Die Nase ist dabei viel wichtiger als die Zunge. Diese kann nur fünf
       Geschmacksrichtungen unterscheiden – bitter, scharf, salzig, süß und
       umami – das ist herzhaft. Die Riechschleimhaut in den Nasenhöhlen kennt
       hingegen mehr als 10.000 Aromen, entsprechend gibt es Abermillionen
       Kombinationsmöglichkeiten.
       
       Einer der Pioniere der Aromenforschung ist Thomas Vilgis, Professor am
       Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. Vilgis hat 300
       Schlüsselaromen bestimmt, die besonders herausstechen. Es sind vor allem
       flüchtige Aromastoffe, die während des Beißens und Kauens freigesetzt und
       retronasal wahrgenommen werden. Wenn Lebensmittel gleiche Aromastoffe
       enthalten, passen sie hervorragend zusammen.
       
       So enthalten Kaviar und weiße Schokolade neben anderen
       Geschmackskomponenten den Inhaltsstoff Trimethylamin. Schokoladenmuffin und
       Blauschimmelkäse haben mindestens 73 übereinstimmende
       Geschmackskomponenten. Die Aromaforschung hat inzwischen sogenannte
       Geschmacksstammbäume entwickelt, die aufzeigen, welche Zutaten zueinander
       passen, einlesen kann man sich zu dem Thema unter anderem [1][bei
       foodpairing.com].
       
       Thomas Vilgis spricht statt von Food- lieber von Geschmacks-, Aroma- und
       Flavourpairing. Er ist mehr als nur Professor für Physik. „Ich schnuppere
       gerne in meiner Umwelt rum, vor allem im Essen und seinen Zutaten“, sagt
       er. Inzwischen berät er Sterneköche, hält Vorträge zum Thema und ist
       Herausgeber des Journal Culinaire, einer Halbjahreszeitschrift über Kultur
       und Wissenschaft des Essens. Und er schreibt selbst Kochbücher.
       
       ## Kategorien wie „floral“, „schweflig“ oder „röstig“
       
       Sein Buch „Aroma“, bereits in der 3. Auflage erschienen, öffnet den Blick
       für einen anderen Einsatz von Gewürzen. Jede Zutat wird in ihre Einzelteile
       zerlegt und nach Kategorien wie „floral“, „schweflig“ oder „röstig“
       eingeordnet.
       
       Da ist zum Beispiel Liebstöckel, das verschriene Maggikraut, das in der
       Suppenwürze selbst allerdings gar nicht vorkommt. Frisch duftet es nach
       Moschus, Anis, Zitrone und Hefe. Vilgis weist darauf hin, dass es auch eine
       große Anzahl von würzigen Duftnoten mitbringt, die sonst nur beim Bräunen
       oder Kochen entstehen. Es handelt sich um den Aromastoff Solothon, der auch
       in Bockshornklee zu finden ist oder in reifen Port- oder Madeiraweinen.
       Deswegen passt Liebstöckel zu Kaffee oder Schokolade, genauso aber in einen
       Salat aus lange gegarten süßen Karotten.
       
       Gleich und gleich gesellt sich gern – Foodpairing darauf zu reduzieren,
       wäre Vilgis allerdings zu einfach. „Das wäre langweilig“, sagt er und gibt
       ein Beispiel: „Lachs, Gurken, Melonen und Borretsch ergeben immer ein
       angenehmes Bild. Alle Zutaten schmecken irgendwie gurkig.“ Aber es sind
       auch die Kontraste, die Essen spannend machen – wie in diesem Fall der
       klassische Dill.
       
       Geschmack besteht eben nicht nur aus dem, was sich in der Nase abspielt,
       gibt Vilgis zu bedenken. Er ist die Summe von Eindrücken aller Sinne, auch
       Sehen und Hören spielen eine Rolle. Jeder Esser bringt seine individuelle
       Essgeschichte mit an den Tisch: Erinnerungen, Vorlieben. Für Köche können
       die Erkenntnisse der Aromenforschung deshalb nur Inspiration oder
       Orientierungshilfe sein.
       
       Trotzdem habe der wissenschaftliche Ansatz schon vieles verändert.
       „Früher“, sagt Vilgis über Restaurantküchen, „hat man dort eher in der
       Kombination Fleisch/Gemüse/Sättigungsbeilage gedacht, also Nährstoffgruppen
       wie Proteine und Kohlehydrate im Blick gehabt.“ Das geschehe nun nach
       Geschmacks- und Aromamaßstäben und nicht nur in der Molekularküche, die
       einst die Avantgarde des angewandten Foodpairing war.
       
       Gibt es noch viel zu entdecken? Allerdings, sagt Vilgis. Er beschäftigt
       sich gerade mit Gemüsen: „Es ist interessant. Jedes Gemüse ist ursprünglich
       bitter. Hier ist die Zubereitung besonders interessant. Wie holt man die
       bestimmenden Aromen aus den Zutaten?“
       
       7 Aug 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.foodpairing.com/en/home
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörn Kabisch
       
       ## TAGS
       
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