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       # taz.de -- Der Hype um „Urweizen“: Abwechslung hält gesund
       
       > Alte Getreidesorten wie Emmer oder Dinkel sind nicht bekömmlicher als
       > Brotweizen. Auch sie enthalten Gluten. Etwas gesünder sind sie trotzdem.
       
   IMG Bild: Ein Bäcker beim Kneten des Brotteigs
       
       Seit einigen Jahren steht Weizen und sein Eiweiß, das Gluten, auf dem
       Index. Das soll dick machen und für allerlei Unverträglichkeiten wie
       Bauchschmerzen oder Blähungen verantwortlich sein. Viele Weizenverächter
       fürchten, dass vor allem der hoch gezüchtete Weizen Entzündungen im Körper
       fördere und darum unverträglich sei und krank mache. Der Turbo-Weizen soll
       nämlich mehr Gluten als früher liefern. Aber auch sogenannte ATIs, die die
       Pflanze zur Schädlingsabwehr bildet, werden für Entzündungen verantwortlich
       gemacht. Und eine weitere Substanzgruppe, die Weizen-Fructane, könnte
       ebenfalls für die gefühlte Zunahme an Brotunverträglichkeiten
       verantwortlich sein.
       
       Darum werden vermehrt „Urgetreide“-Mehle und daraus hergestellte Brot- und
       Nudelsorten nachgefragt. Aber sind diese tatsächlich so viel gesünder?
       Forscher der Universität Hohenheim untersuchen derzeit das
       Gesundheitspotenzial von Einkorn, Emmer, Gelbweizen oder Dinkel. Erste
       Studienergebnisse widersprechen jedoch einigen kursierenden Mythen.
       
       So ist auch der „normale“ Weizen gesund, er liefert zahlreiche Nährstoffe
       wie B-Vitamine und er hat nicht mehr Gluten oder ATIs intus als
       Urweizensorten. Erst kürzlich hat eine US-amerikanische Studie der Columbia
       University mit mehr als 100.000 Teilnehmern belegt, dass eine glutenfreie
       Kost bei Gesunden nichts bewirke. Im Gegenteil: Da ein Verzicht auf Brot
       auch oft zu einem verringerten Verzehr von Faserstoffen führt, könnte das
       Risiko für eine Koronare Herzkrankheit sogar steigen, mahnen die Forscher.
       
       Trotzdem könnten alte Weizensorten wegen anderer Substanzen doch etwas
       gesünder sein. Vor allem Einkorn, aber auch Gelbweizen oder Hartweizen
       speichern nämlich deutlich mehr Lutein in ihren Körnern als Brotweizen, hat
       Friedrich Longin von der Landessaatzuchtanstalt in Stuttgart aufgedeckt.
       Lutein ist ein Stoff, der auch in grünem Gemüse zu finden ist und womöglich
       gegen die altersbezogene Makuladegeneration (AMD) feit. Denn: Lutein und
       ein anderes Carotinoid, das Zeaxanthin, bilden das Makulapigment des Auges,
       mit dem Alter nimmt der Gehalt dieser beiden Schutzstoffe jedoch ab. Manche
       Augenärzte empfehlen ihren Hochrisikopatienten auch Lutein-Kapseln. Einen
       Nutzen für solche Präparate bei jungen, gesunden Menschen gibt es indes
       bislang nicht.
       
       ## Referenzwert für Lutein
       
       Dennoch wird derzeit debattiert, ob man nicht einen Referenzwert für Lutein
       benennen sollte, schließlich kann der Körper das Pigment nicht selber
       bilden. Eine Art Vitamin ist es dennoch nicht, schließlich entstehen keine
       Mangelkrankheiten, wenn man es nicht aufnimmt. „Neuere Studien zeigen
       jedoch, dass Lutein möglicherweise auch das Lernverhalten, die
       Konzentrationsfähigkeit oder das Gedächtnis positiv beeinflussen kann“,
       sagt Volker Böhm, Lebensmittelchemiker an der Universität Jena. „Eine
       erhöhte Zufuhr auch durch Gelbweizen oder Einkorn ist darum sicher
       wünschenswert.“
       
       Da Urweizen-Arten nicht so hohe Erträge liefern, werden sie derzeit noch
       kaum angebaut. So bringt beispielsweise Emmer eine um rund 50 Prozent
       geringere Ausbeute als Weichweizen. Longin arbeitet jedoch an
       entsprechenden, ertragreichen Züchtungen – ohne Gentechnik. Schließlich
       sind diese nicht nur gesund, sondern steigern auch die Biodiversität.
       
       Kürzlich wurde auch das Genom von Emmer entschlüsselt. Dies, so meint das
       internationale Forscherteam, sei hilfreich, um neue, etwa
       trockenresistentere, Getreidesorten zu züchten. Longin ist eher skeptisch:
       „Eigenschaften der Pflanze kommen stets durch eine Kombination
       verschiedener Gene zustande. Es ist also meistens wenig zielführend, hier
       etwa mit der CRISPR-Methode gezielt einzelne Gene auszuschneiden und
       einzufügen.“
       
       ## Lutein und Vitamin E
       
       Alte Weizensorten sind jedoch nicht nur luteinreich, sondern liefern auch
       bis zu zehnmal mehr Vitamin E und cholesterinsenkende Sterylferulate als
       herkömmlicher Brotweizen. Das Besondere an Lutein ist jedoch, dass es nicht
       bei der Herstellung von Auszugsmehl abgetrennt wird, denn es steckt im
       Mehlkörper des Korns und nicht in der Schale, wie so viele andere gesunde
       Getreideinhaltsstoffe, dazu zählen Mineralstoffe, Vitamine oder
       Ballaststoffe. Darum sind herkömmliche Hartweizennudeln auch ohne den
       Zusatz von Eiern gelb gefärbt und könnten demnach weniger ungesund sein als
       vielfach angenommen. Auch beim Kochen werden Lutein und Vitamin E nicht
       zerstört.
       
       Um der Unverträglichkeit von modernen Brotsorten auf die Schliche zu
       kommen, arbeiten die Hohenheimer Lebensmittelchemiker auch mit Bäckern und
       Gastroenterologen zusammen. Eine weitere Hohenheimer Studie von 2016 hat
       nämlich ergeben, dass auch die Teigherstellung unabhängig von der Weizenart
       einen Einfluss auf die Verdaulichkeit von Brot hat. Reizdarmpatienten
       vertrugen mit Hefeteig hergestellte Brote wesentlich besser, wenn diese
       ausgiebige Reifungszeiten hinter sich hatten. Die sogenannten
       Getreide-Fructane, die auch und teils sogar in höheren Mengen in Urweizen
       vorkommen, waren bei dem „Slow-Brot“ um 90 Prozent reduziert. Auf
       ATI-Gehalte hat die Teigherstellung indes keinen Einfluss.
       
       Möglicherweise hängt es aber auch von der Brotsorte ab, ob sich nach dem
       Genuss Wohlbefinden oder Bauchschmerzen einstellen. Denn: Roggen- und
       Vollkornbrote liefern von Haus aus geringere Gehalte an Gluten. Zudem wird
       Ballaststoffen mittlerweile auch eine antientzündliche Wirkung nachgesagt.
       Auch Dinkel, Grünkern und Kamut sind übrigens glutenhaltige Weizenarten.
       Und auch diese haben einen hohen Nährwertgehalt. Wie bei allem gilt also
       auch beim Getreidekonsum: Abwechslung hält gesund.
       
       14 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Burger
       
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