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       # taz.de -- Filmfestival in Locarno: Platz für Sperriges
       
       > Das Locarno Festival macht es seinem Publikum nicht leicht – belohnt aber
       > mit Filmen, die man in anderen Wettbewerben so nicht sehen würde.
       
   IMG Bild: „Mrs. Fang“ erzählt von den physischen und sozialen Bedingungen des Sterbens
       
       Das Locarno Festival – wie sich das ehemalige Internationale Filmfestival
       von Locarno rechtzeitig zu seinem diesjährigen 70. Geburtstag umgetauft hat
       – ist eigentlich ein wenig zu groß für die adrette, aber nur in ein paar
       wenigen seenahen Straßenzügen wirklich mondäne Südschweizer Kleinstadt, die
       es beherbergt.
       
       Wenn im August der Kinobetrieb Einzug hält, platzen die Hotels aus allen
       Nähten, und die gesamte Stadt färbt sich in die schwarz-gelben
       Festivalfarben ein. Man kann sich, wenn man Locarno nur als
       Festivalbesucher kennt, nicht so recht vorstellen, wie der Ort im
       Normalmodus ausschaut.
       
       Die Jubiläumsausgabe scheint das Festival dazu genutzt zu haben, sich im
       Stadtbild noch einmal etwas nachdrücklicher zu manifestieren: In zentraler
       Lage wurde ein neuer, ausladender Filmpalast errichtet, der in den nächsten
       Jahren zum Zentrum des Kinoevents ausgebaut werden soll und der bereits
       jetzt drei brandneue Kinosäle beherbergt.
       
       In einem davon lief gleich an meinem ersten Locarno-Tag der vielleicht
       außergewöhnlichste Film der diesjährigen Festivalausgabe: „Prototype“ ist
       der erste Langfilm des kanadischen Regisseurs Blake Williams – und einer
       der immer noch erstaunlich wenigen Versuche, die inzwischen schon fast
       wieder veraltet anmutende 3-D-Technik für ein experimentelles Kino zu
       nutzen, das die visuelle Alltagswahrnehmung herausfordert.
       
       Williams’ Film, der seinen Ausgangspunkt bei einer Naturkatastrophe nimmt,
       die im Jahr 1900 Texas heimgesucht hatte, läuft bisweilen Gefahr, sich in
       Obskurantismus zu verlieren; er enthält aber auch eine ungemein
       faszinierende Sequenz, die, so könnte man das vielleicht beschreiben, die
       inneren Abgründe eines Fernsehbildschirms erkundet. Genauer gesagt geht es
       um das Bild eines Röhrenfernsehers aus den 1950er Jahren, dessen Flimmern
       von Williams mithilfe moderner Digitaltechnik in einen fast völlig
       abstrakten, absurden Erfahrungsraum verwandelt wird.
       
       ## Höllentrip unter blutrotem Himmel
       
       Die 3-D-Technik gibt einem dabei nicht die Illusion von Tiefe, sondern sie
       nimmt einem die Sicherheit einer in sich kohärenten Oberfläche. Die
       Bildinformationen, die das rechte und das linke Auge jeweils getrennt
       empfangen, kommen nie komplett zur Deckung. Das Resultat ist eine konstante
       sensuelle Überforderung, die freilich auf die Dauer eine unwiderstehliche,
       hypnotische Sogwirkung entfaltet.
       
       Dass ein Film wie „Prototype“, der einen nicht geringen Teil seiner
       Zuschauerschaft bereits in den ersten Minuten aus dem Saal vertreibt, an
       recht prominenter Stelle im Programm platziert ist, passt zum
       Selbstverständnis der Kuratoren: Wo andere Festivals sperrigen, verqueren
       Arbeiten höchstens in abgelegenen Nebensektionen eine Chance geben, haben
       in Locarno alle Facetten des Kinos erst einmal dieselbe Berechtigung.
       
       So werden im Wettbewerb regelmäßig neben Spiel- auch Essay- und
       Dokumentarfilme präsentiert – dieses Jahr etwa Wang Bings eindringlicher
       „Mrs. Fang“, ein Film, der einer alten Chinesin beim Sterben zusieht, über
       weite Strecken des Films in extremen Großaufnahmen, die das Gesicht der
       Frau fokussieren.
       
       Schwer zu sagen, warum das nicht für einen Moment obszön oder auch nur
       aufdringlich wirkt. Vielleicht, weil sich der Film gleichzeitig für die
       physischen und sozialen Bedingungen des Sterbens interessiert. Er zeigt die
       Verwandten der Sterbenden, wie sie sich in aufmerksamer Fürsorge im Zimmer
       der Frau drängen; und er begleitet sie auch gleich mehrmals bei
       Angelausflügen, deren beiläufige Alltäglichkeit einen Gegenpol bilden zur
       intimen Konzentration am Krankenbett. Völlig zu Recht wurde Wang Bing, seit
       Jahren ein zentraler Chronist der sozialen Umbrüche im postsozialistischen
       China der Gegenwart, für „Mrs. Fang“ mit dem Goldenen Leoparden, dem
       Hauptpreis des Festivals, ausgezeichnet.
       
       Den Tonfall, den „Did You Wonder Who Fired the Gun?“ anschlägt, ist noch
       ungewöhnlicher für den Wettbewerb eines großen Filmfestivals. Der
       Amerikaner Travis Wilkerson verwandelt einen autobiografischen
       Dokumentarfilm über einen Mord, den sein eigener Urgroßvater in den 1940er
       Jahren an einem Schwarzen begangen haben soll, in ein wütend-wuchtiges
       Stück Politkino irgendwo zwischen Southern-Gothic-Horrorvision und
       Agitprop-Musikvideo, zu einem Höllentrip unter blutrotem Himmel, der im
       rassistischen Morast der Vergangenheit wühlt, um die Kämpfe der Gegenwart
       anzuheizen.
       
       Wenn es nach Wilkerson geht, soll am Ende das gesamte Kinopublikum in einen
       „black lives matter“-Sprechgesang miteinstimmen – das kann im saturierten,
       blankpolierten Locarno zwar nicht ganz funktionieren, aber als
       unversöhnter, radikallinker und gleichzeitig ausgesprochen stilbewusster
       Querschläger gehörte Wilkersons Film zu den eindrucksvollsten Arbeiten des
       Wettbewerbs.
       
       ## Flackernde Schatten
       
       Die sympathische Vorliebe des Festivals für die Exzentriker und Außenseiter
       des Kinos schlug dieses Jahr auch auf die Retrospektive durch, eine
       Sektion, die in Locarno traditionell einen größeren Stellenwert hat als auf
       den meisten anderen Festivals – schon, weil sie im schönsten Kinosaal der
       Stadt, dem traditionsreichen, zum Jubiläum ebenfalls grundrenovierten
       GranRex, gezeigt wird.
       
       Dieses Jahr war sie Jacques Tourneur gewidmet, einem französischen
       Regisseur, der zwischen den späten 1930er und den mittleren 1960er Jahren
       in Hollywood arbeitete. Vom Glamour, den man für gewöhnlich mit dem
       amerikanischen Kino dieser Zeit verbindet, ist in seinen zumeist am Rand
       der Industrie entstandenen, in wenigen Wochen für wenig Geld
       heruntergekurbelten Filmen freilich nicht das Geringste zu sehen. Tourneurs
       Kino zeichnet sich durch kluges Understatement aus – berühmt ist er vor
       allem für minimalistische Horrorfilme wie „Cat People“, denen ein paar
       flackernde Schatten genügen, um welterschütternde psychologische Abgründe
       zu evozieren.
       
       Der vielleicht schönste aller Tourneur-Filme ist „I Walked With a Zombie“,
       eine somnambule Karibikfantasie voller Voodoopriester, ferngesteuerter
       Frauen, dunkler Geheimnisse in hohen Türmen – und einem unvergesslichen,
       deliranten Ohrwurm: „The wife fell down and the evil came / and it burned
       her mind in the fever flame“. In Locarno wurde dieses gerade einmal gut
       einstündige Meisterwerk des fantastischen Kinos auf der Piazza Grande
       gezeigt, dem spektakulären Herzstück der Stadt. Abend für Abend kommen da
       unter freiem Himmel Filme zur Aufführung, für gewöhnlich vor mehreren
       Tausend Zuschauern.
       
       ## Von Regen, Blitz und Donner umtost
       
       „I Walked With a Zombie“ erwies sich allerdings auch in dieser Hinsicht als
       ein Ausnahmewerk, als ein Film, für den andere Regeln gelten als für den
       Rest des Kinos: Fast unmittelbar nach Filmbeginn – passenderweise war das
       Screening am späten Donnerstagabend, zur Geisterstunde, programmiert –
       setzte ein heftiges Gewitter ein, das einen Großteil des Publikums von der
       Piazza vertrieb.
       
       Nur an deren seitlichem Rand, unter den schützenden Balustraden, drängten
       sich ein paar Dutzend Zuschauer. Vielleicht ist das ein gutes Bild für den
       gegenwärtigen Stand der Dinge in Sachen Kino: Einer der schönsten,
       rätselhaftesten, atmosphärischsten Horrorfilme aller Zeiten wird, von
       Regen, Blitz und Donner umtost, auf eine der größten Kinoleinwände Europas
       projiziert – vor fast komplett leergefegten Zuschauerrängen.
       
       13 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Foerster
       
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