URI: 
       # taz.de -- Berlins jüngste Abgeordnete: Jugend forsch
       
       > Manchmal wird sie im Abgeordnetenhaus für eine Praktikantin gehalten: Die
       > 20-jährige June Tomiak (Grüne) will zeigen, dass Politik Spaß machen
       > kann.
       
   IMG Bild: „Ich will zeigen, dass Politiker nicht so weit weg sein müssen, wie sie oft wirken“: June Tomiak im Abgeordnetenhaus
       
       June Tomiak hat das kleine Fenster in ihrem Büro im Abgeordnetenhaus weit
       geöffnet und ihren Stuhl so gerückt, dass wenigstens ein bisschen was von
       dem Sonnenschein, der da draußen heute die Stadt erfüllt, auch sie
       erreicht. Sie kommt gerade von einem Termin und muss gleich zum nächsten –
       so war das schon bei einem letzten Treffen, als draußen noch Schnee lag.
       
       Immerhin: Ihr Büro ist mittlerweile eingerichtet, während sich damals hier
       noch die Umzugskisten stapelten. Und auch mit der Terminflut könne sie
       schon etwas besser umgehen, sagt Tomiak: „Ich bin da kreativer geworden,
       ich weiß jetzt, wie man auch Lücken von einer halben Stunde gut nutzen
       kann.“
       
       Kein gewöhnlicher Satz für eine Berliner 20-Jährige, aber Tomiaks Leben ist
       ja auch ungewöhnlich: Auf einem Landesparteitag der Grünen vor der letzten
       Wahl schaffte sie es auf einen sicheren Listenplatz, im September zog sie
       mit 19 Jahren als mit Abstand jüngste Abgeordnete ins Parlament ein. In
       ihrer Fraktion ist sie Sprecherin für Jugendpolitik und Strategien gegen
       Rechtsextremismus, sie sitzt in Innen-, Bildungs- und
       Verfassungsschutzausschuss.
       
       Bei einem Blick auf Tomiaks Leben erscheint es allerdings schon weniger
       ungewöhnlich, dass sie heute dort ist, wo sie ist: Sie war erst Klassen-
       und dann Schülersprecherin, hatte alle möglichen Ämter im
       Landesschülerausschuss, stieg 2012 bei der Grünen Jugend ein und 2016 dann
       auch bei den Grünen. Politik war ihr immer wichtiger als Schule, sagt sie,
       und nun ist sie ihr wichtiger als ihr Studium, das sie im Herbst an der
       Technischen Universität begonnen hat und in dem sie auch nach den ersten
       Monaten „noch nicht so ganz den Überblick“ hat, wie sie lachend zugibt.
       
       ## Ein offener Blick
       
       Tomiak hat ein selbstbewusstes, sympathisches Auftreten, einen offenen
       Blick, man merkt, dass es ihr ernst ist mit ihren Themen. Der Kampf gegen
       Rechtsextremismus ist ihr ein Anliegen oder der für sexuelle
       Selbstbestimmung. Inhaltlich hätte sie vielleicht auch bei der Linken
       landen können, kulturell passt sie besser zu den Grünen, und dass dort
       junge Frauen besser gefördert würden, wie sie es sagt, klingt nicht völlig
       unplausibel.
       
       Noch mehr als um einzelne Themengebiete aber scheint es ihr bei ihrer
       Arbeit als Abgeordnete um etwas Grundsätzliches zu gehen: „Ich sehe mich
       schon auch als Brücke zwischen jungen Menschen und Politik, ich will
       zeigen, dass Politiker nicht so weit weg sein müssen, wie sie oft wirken“,
       sagt sie. Immer wieder ist sie in Schulklassen zu Besuch oder führt junge
       Leute durchs Abgeordnetenhaus, auch beim Twittern gehe es ihr darum,
       „politische Arbeit zum Anfassen“ zu machen.
       
       „Ich will zeigen, dass Politik auch Spaß machen kann“ – selbst vor solchen
       Sätzen schreckt Tomiak nicht zurück, und auch nicht vor der
       Öffentlichkeitsarbeit, die dazu wohl gehört. Ihren größten Pressecoup hatte
       sie bisher mit einer parlamentarischen Anfrage zu dem Fall eines Berliner
       Polizeischülers, dessen drei Jahre zurückliegende Mitarbeit in einem
       Pornofilm öffentlich wurde.
       
       Tomiak warf der Polizei, die disziplinarrechtliche Maßnahmen angekündigt
       hatte, einen „versteiften“ Umgang mit der Sache vor und nutzte die
       Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass Pornos nur dann problematisch
       seien, wenn sie sexistische Inhalte vermittelten. Die Medien stürzten sich
       darauf, ihr Telefon stand tagelang nicht still. Noch heute muss sie
       grinsen, wenn sie daran zurückdenkt.
       
       Einen anderen Fall größerer Medienaufmerksamkeit verdankt sie ausgerechnet
       der AfD: Deren Abgeordneter Ronald Gläser kopiert regelmäßig Tomiaks
       Anfragen Wort für Wort, mit dem einzigen Unterschied, dass er
       „rechtsextrem“ durch „linksextrem“ ersetzt und dann etwa nach
       „Linksextremismus an Berliner Schulen 2016“ fragt. Eine PR-Nummer Gläsers,
       der Tomiak mit klarer Kante begegnete: Als Gläser in ihrem Büro auftauchte,
       wies sie ihn ab mit dem Hinweis, er müsse erst einen Termin vereinbaren;
       eine Schachtel Pralinen schickte sie zurück an sein Büro.
       
       Tomiak ist viel unterwegs, in Schulen, auf Antifa-Demos, auf Straßenfesten.
       Von dort twittert sie, macht Selfies und Witze über sich selbst, postet
       lustige Bildchen und kann das alles wirklich viel besser als andere
       Politiker, die jugendlich rüberkommen wollen und dabei häufig krachend
       scheitern. Sie kann eigene Fehler zugeben, sie geht offen damit um, dass
       sie aufgeregt ist vor den ersten Reden im Plenarsaal.
       
       ## Gilt als verlässlich
       
       Das lachende Eingestehen eigener Fehler darf dabei nicht darüber
       hinwegtäuschen: Tomiak ist Profi. Über Fraktionskollegen verliert sie kein
       schlechtes Wort, sie weiß, wie man eigene Erfolge zur Sprache bringt, und
       auch in ihrer parlamentarischen Arbeit gilt sie als verlässlich und
       durchsetzungsstark.
       
       Zum Profisein gehören für eine Abgeordnete aber auch Dinge, die Tomiaks
       eigentliches Anliegen – der Gegenentwurf zur unnahbaren Politikerin zu sein
       – konterkarieren. Wenn Tomiak sich zu einer bestimmten Veranstaltung, einem
       Thema oder einer Auseinandersetzung nicht inhaltlich äußern will, dann
       nennt sie sie „spannend“ oder auch mal „extrem spannend“.
       
       Spannend ist der Umgang der Grünen mit der AfD im Parlament, extrem
       spannend die innerparteiliche Auseinandersetzung über das Thema
       Asylpolitik. Wobei „spannend“ hier eigentlich gar nichts sagt – durch ihre
       Professionalität wird Tomiak hier unnahbarer, als sie es eigentlich sein
       will.
       
       Tatsächlich spannend dürfte es werden, dabei zuzusehen, wie Tomiak diesen
       Spagat in Zukunft meistert. Die nächste große Aufgabe wartet jedenfalls
       schon: Sollte ihre Fraktionskollegin Canan Bayram, die den Wahlkreis von
       Hans-Christian Ströbele übernommen hat, im September in den Bundestag
       wechseln, wird Tomiak sie im Untersuchungsausschuss zum Fall Amri ersetzen.
       Zu Beginn der Legislaturperiode, so erzählt sie, wurde sie im
       Abgeordnetenhaus manchmal für eine Praktikantin gehalten – das dürfte dann
       endgültig vorbei sein.
       
       15 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malene Gürgen
       
       ## TAGS
       
   DIR Abgeordnetenhaus
   DIR Parlament
   DIR Grüne Berlin
   DIR Canan Bayram
   DIR Canan Bayram
   DIR Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Polizei Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kommentar Grüne vor der Wahl: Hickhack bei der ökosozialen Partei
       
       Grüne Oberrealos halten die linksgrüne Canan Bayram aus Berlin-Kreuzberg
       für nicht wählbar. Dabei brauchen die Grünen vehemente Neinsagerinnen.
       
   DIR Grundeigentum als Wahlkampfthema: Grüne Missverständnisse
       
       Die Kreuzberger Grünen werben mit Häuserkampf – ganz zum Ärger der
       Bundesökos. Dabei sollten die über jede Chance der Profilierung froh sein.
       
   DIR Amri-Untersuchungsausschuss in Berlin: „Mindestens eineinhalb Jahre“
       
       Benedikt Lux vertritt die Grünen-Fraktion in dem Gremium, das am Freitag
       erstmals tagt. Er sieht auch bei der CDU wirkliches Interesse an Aufklärung
       im Fall Amri.
       
   DIR Demo von Rechten am Samstag in Berlin: Sie marschieren wieder gegen Merkel
       
       Unter dem Motto „Merkel muss weg“ wollen am Samstag erneut hunderte
       Rechtsextreme durch die Innenstadt ziehen. Linke wollen das verhindern.
       
   DIR Was fehlt …: … Verständnis fürs Pimmel-Bingo
       
   DIR Grüne gerät mit Polizei aneinander: „Ein Einschüchterungsversuch“
       
       Als sie am Samstag auf einer Demonstration Fotos machte, drohte die
       Polizei, ihr den Abgeordnetenstatus zu entziehen, sagt die Grüne June
       Tomiak.