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       # taz.de -- „Cumhuriyet“-Prozess in der Türkei: Jeder Satz war eine mögliche Straftat
       
       > In der Tükei hat der „Cumhuriyet“-Prozess begonnen. Ex-Redakteur und
       > heutiger taz-Autor Ali Çelikkan erinnert sich an die Wochen nach dem
       > Putschversuch.
       
   IMG Bild: Damals noch in Freiheit: der ehemalige Chefredakteur Murat Sabuncu im Januar 2015
       
       Berlin taz | Es war in den Abendstunden, fünf Tage nach dem vereitelten
       Putschversuch im vergangenen Jahr. In der Nachrichtenredaktion der
       Cumhuriyet haben wir mit Kolleg*innen die Ausrufung des Ausnahmezustandes
       durch Erdoğan mitverfolgt. Es warteten neue Gefahren auf die älteste
       Zeitung der Republik in einer Türkei, die sich an Männer mit
       Maschinengewehren hinter Stahltüren, stets einsatzbereite Wasserwerfer,
       täglich neu formulierte Drohungen und Klagen gewöhnt.
       
       Kolleg*innen mit Erfahrung in ähnlichen Situationen wussten, dass mit der
       Ausrufung des Ausnahmezustands die Justiz außer Kraft gesetzt werden würde.
       Wir Jüngeren haben in unserer Aufregung gedacht, die Zeitung würde gleich
       am nächsten Tag dichtgemacht. Kurz bevor wir gegen Mitternacht die
       Redaktion verließen, löschten wir alle Dokumente über die Panama Papers vom
       Redaktionsrechner. Aber am nächsten Tag passierte gar nichts. Unser
       damaliger Chefredakteur Murat Sabuncu (der sich derzeit in Haft befindet)
       prophezeite, dass alles seinen gewohnten Lauf nehmen und wir auch weiterhin
       frei und unabhängig unsere Arbeit als Journalisten machen würden.
       
       Er hat sich geirrt: Jeder publizierte Satz konnte fortan als Straftat
       gewertet werden. Unsere Anwälte, die ohnehin ständig mit Klagen kämpften,
       fingen an, jeden Artikel doppelt zu prüfen, um weitere rechtliche und
       finanzielle Probleme zu verhindern. Dennoch blieb die Cumhuriyet ihrer
       kritischen Linie treu. Alles schien zu laufen wie gewohnt – bis in den
       Morgenstunden des 31. Oktober zehn KollegInnen festgenommen wurden,
       darunter Mitglieder des Stiftungvorstands, Autoren und Anwälte. Ihre Zahl
       stieg später auf zwölf, elf davon [1][stehen nun vor Gericht].
       
       ## Die Zeitung hielt stand
       
       Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Berichterstattung habe sich zugunsten
       der Gülen-Bewegung und der PKK verändert. Regierungsnahe Medien stützen
       diese Anschuldigungen durch ihre Berichterstattung. Noch trauriger ist,
       dass einige (Ex-) Mitarbeitende als Zeugen der Anklage ausgesagt haben.
       Offensichtlich hatten sie Interesse daran, die frei gewordenen Stellen zu
       besetzen. Die Regierung hatte sich interne Machtkämpfe zunutze gemacht, um
       unsere Zeitung von innen zu zerlegen.
       
       Die Cumhuriyet hat es geschafft, all diesen Angriffen standzuhalten. Die
       Anklageschrift, die erst fünf Monate nach der Festnahme unserer
       Kolleg*innen verlesen wurde, steht exemplarisch für den Zustand, in dem
       sich das türkische Rechtssystem befindet. Unsere Mitarbeiter*innen und
       Leser*innen kämpfen nach wie vor gegen die Anschuldigungen, in denen
       Artikel als Beweise angeführt werden und der Zeitung die Übernahme durch
       Terrororganisationen vorgeworfen werden. Die Journalistin Pelin Ünker
       sagt: „Der Glaube, dass unsere Kollegen bald ihre Freiheit erlangen werden,
       gibt uns die Kraft weiterzumachen.“
       
       Der Prozess gegen die Cumhuriyet steht exemplarisch für alle Verfahren, die
       derzeit in der Türkei gegen Journalist*innen geführt werden. Die Geschichte
       wird nicht vergessen, dass aus der Luft gegriffene Anschuldigungen vor
       einem nicht unabhängigen Gericht verhandelt werden.
       
       24 Jul 2017
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ali Celikkan
       
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