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       # taz.de -- Treffen der Wirtschaftsnobelpreisträger: Ein Preis, der nicht nobel ist
       
       > In Lindau am Bodensee tagen die 18 Preisträger. Es gibt Ärger um den
       > Namen der Auszeichnung. Mario Draghi eröffnet das Treffen.
       
   IMG Bild: Mario Draghi hält die Eröffnungsrede. Mit seiner Niedrigzinspolitik steht er immer wieder in der Kritik
       
       Berlin taz | Eine wunderbare Chance scheint sich für 350
       Wirtschaftsstudentinnen und -studenten aus 66 Ländern aufzutun: In Lindau
       am Bodensee dürfen sie in der nächsten Woche 18
       Wirtschafts-Nobelpreisträger treffen. Vier Tage lang begegnen sie den
       Star-Ökonomen, bei Vorträgen, Seminaren, Abendessen und Bootstouren.
       
       Das Ereignis ist so wichtig, dass EZB-Chef Mario Draghi eigens anreist, um
       am Dienstag die Eröffnungsrede zu halten. Am Mittwochabend folgt dann
       Kanzleramtschef Peter Altmaier als Gastredner.
       
       Der Nobelpreis hat einen Nimbus, dem sich niemand entziehen kann. Denn in
       den Naturwissenschaften werden die besten Physiker, Mediziner und Chemiker
       ausgezeichnet. Aber gilt das auch für die Wirtschaftswissenschaft? Die
       Zweifel daran sind so alt wie der Ökonomie-Nobelpreis.
       
       Die echten Nobelpreise werden seit 1901 verliehen, doch den
       „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“ gibt es erst
       seit 1968 – und er wird von der schwedischen Reichsbank gestiftet. Mit
       Alfred Nobel hat dieser Preis nichts zu tun, wie die Nachfahren immer
       wieder betonen.
       
       ## Ein politisches Kampfinstrument
       
       Nobel hätte „niemals“ zugestimmt, dass in seinem Namen ein Wirtschaftspreis
       vergeben wird: „Alfred Nobel hatte ein sehr negatives Bild von der
       ökonomischen Theorie“, und obwohl er ein überaus erfolgreicher
       Industrieller war, „sah er sich selbst nicht als Geschäftsmann, sondern als
       Wissenschaftler und Erfinder“, so seine Nachfahren.
       
       Die Familie fordert daher, dass die Auszeichnung für die Ökonomen nicht
       mehr „Nobel“ im Namen führt – sondern schlicht „Preis der schwedischen
       Reichsbank“ heißt. Doch dieser Wunsch wird hartnäckig ignoriert.
       Stattdessen hat die Reichsbank alles unternommen, damit ihre Auszeichnung
       möglichst genauso aussieht wie die echten Nobelpreise: Sie wird gleich
       dotiert, zeitgleich verkündet und ebenfalls vom schwedischen König
       überreicht.
       
       Die Absicht dieser Inszenierung ist offensichtlich: Die Ökonomie soll zu
       einer Art Physik-Variante geadelt werden, in der ebenfalls quasi
       Naturgesetze gelten. Es soll der Eindruck entstehen, dass die Volkswirte
       Wahrheiten verkünden, die fern aller Politik und Ideologie sind.
       
       Doch so unpolitisch der Wirtschaftsnobelpreis wirken sollte – er war von
       Anfang an ein politisches Kampfinstrument. Wie die beiden
       Wirtschaftshistoriker Avner Offer und Gabriel Söderberg kürzlich in ihrem
       Buch „The Nobel Factor“ nachgezeichnet haben, stiftete die Schwedische
       Reichsbank ihren Preis, um eine bestimmte Wirtschaftstheorie
       durchzusetzen: die marktradikale Neoklassik.
       
       ## Ein genialer PR-Coup
       
       Denn die Reichsbank hatte sich in einen Kampf mit der schwedischen
       Regierung verstrickt, wie die beiden Wirtschaftshistoriker erklären: „Nach
       1945 war es für die regierenden Sozialdemokraten oberste Priorität, für
       Wohnungen und Vollbeschäftigung zu sorgen. Die Reichsbank lehnte diese
       Maßnahmen ab, weil sie fürchtete, dass die Inflation steigen könnte … und
       suchte nach Wegen, um sich doch noch durchzusetzen.“
       
       Im Kampf gegen die Sozialdemokratie erwies sich der Wirtschaftsnobelpreis
       als genialer PR-Coup, denn er kehrte die Hierarchie um: Politiker wurden
       nun zu Befehlsempfängern der Ökonomen, denn diese hatten ja angeblich
       Einblick in objektive Naturgesetze.
       
       Zudem erschien jede Art der Sozial- und Wirtschaftspolitik als überflüssig
       oder gar störend. Denn der Markt wurde verabsolutiert: Er galt nicht nur
       als effizient, sondern auch als gerecht. Die Kernannahme der Neoklassik
       ist, dass jeder bekommt, was er verdient. Das Thema Macht verschwindet.
       Wenn wenige reich sind und beim Rest der Lohn stagniert – dann ist dies
       kein Verteilungsproblem mehr, sondern ein quasi natürliches Gleichgewicht.
       
       Immerhin: Es gab auch Kritiker dieser Effizienztheorie, die den Nobelpreis
       erhalten haben. Dazu gehören George Akerlof oder Joseph Stiglitz. Sie
       zeigten, dass der Markt oft versagt, weil Informationen asymmetrisch
       verteilt sind.
       
       ## Eine Tauschwirtschaft wie im Mittelalter
       
       Doch auch die Kritiker starten beim Thema Markt und übernehmen damit das
       zentrale Paradigma der Neoklassik. Angebot und Nachfrage werden zu den
       entscheidenden Kategorien erhoben. Dies mag harmlos wirken, hat aber zur
       Folge, dass man etwa Finanzkrisen nicht vorhersehen kann, weil Geld,
       Kredite und Banken keine zentrale Rolle spielen. Denn letztlich wird eine
       Tauschwirtschaft modelliert, als würden wir noch im Mittelalter leben.
       
       Selbst berühmte Volkswirte sind überzeugt, dass ihr Fach mit einer
       rationalen Wissenschaft nichts mehr zu tun hat, sondern sich in
       quasireligiöse Sekten zerlegt, die doktrinäre Glaubenssätze verbreiten. So
       stellte der Chefökonom der Weltbank, Paul Romer, kürzlich fest: „Die
       Ökonomie funktioniert nicht mehr, wie es bei einer wissenschaftlichen
       Disziplin üblich sein sollte.“ Er warf seinen Kollegen vor, „wie auf einem
       interreligiösen Treffen“ nur noch „Dogmen zu rezitieren“ und dafür
       „andächtige Stille“ zu erwarten.
       
       Auch Angela Merkel hält nicht mehr allzu viel vom Sachverstand der
       Ökonomen. Das wurde deutlich, als sie 2014 bei der Nobelpreisträgertagung
       in Lindau eingeladen war. Die Kanzlerin schonte die Herren nicht. Höflich,
       aber bestimmt warf sie ihnen vor, einen absurden Wahrheitsanspruch zu
       vertreten: Die Ökonomen sollten „die Ehrlichkeit haben, die Fehlerquoten
       oder die Unschärfen anzugeben, wenn man es nicht ganz genau weiß“.
       
       Dass sich die Nobelpreisträger ausgerechnet in Lindau treffen, hat
       familiäre Gründe: Der schwedische König ist eng mit den Grafen der Insel
       Mainau verwandt. 1951 entstand daher die Idee, dass eine Preisverleihung in
       Stockholm nicht ausreiche – sondern dass man die Nobelpreisträger doch
       regelmäßig an den Bodensee einladen könnte. Zunächst kamen abwechselnd nur
       die Chemiker, Physiker und Mediziner, seit 2004 sind auch die Ökonomen alle
       drei Jahre in Lindau.
       
       ## Mathematische Modelle statt reale Wirtschaft
       
       Diesmal werden auch die Nobelpreisträger von 2016 dabei sein: der
       US-Amerikaner Oliver Hart sowie der Finne Bengt Holmström. Ihre Beiträge
       zur „Vertragstheorie“ zeigen, wie absurd und erkenntnisarm die herrschende
       Ökonomie ist. Banalitäten werden zu epochalen Einsichten aufgebauscht.
       
       So stellte Oliver Hart unter anderem fest, dass private Gefängnisbetreiber
       dazu neigen, beim Essen der Insassen zu sparen, um den eigenen Gewinn zu
       erhöhen. Dafür reicht Zeitungslektüre. Ansonsten fiel den
       Vertragstheoretikern auf, dass eine Bank niemals so viel über einen Betrieb
       wissen kann wie der Besitzer – weswegen sie für Kredite erstens Zinsen und
       zweitens Sicherheiten verlangt.
       
       „So arbeiten tatsächlich die meisten Banken“, schreibt die Schwedische
       Reichsbank begeistert, um den Nobelpreis für die beiden zu begründen. In
       der Tat. So arbeiten die Banken seit dem Mittelalter. Seit 700 Jahren
       verlangen sie Zinsen und Sicherheiten. Warum wird dafür jetzt ein
       Nobelpreis fällig? Die schwedische Reichsbank schreibt dazu: „Ökonomen
       haben nun verstanden, was Praktiker und Juristen schon immer wussten.“
       
       Die Reichsbank gibt es also zu: Die meisten Ökonomen erforschen nicht die
       reale Wirtschaft – sondern basteln an mathematischen Modellen. Hart und
       Holmström wurden dafür prämiert, dass ihre Formeln zumindest zum Teil
       Weltwissen abbilden, das alle anderen seit dem Mittelalter haben.
       
       Dieses Vorgehen ist zwar extrem seltsam und hat mit Wissenschaft nichts zu
       tun. Aber die Reichsbank hat den Nobelpreis für Ökonomie ja nicht erfunden,
       um Erkenntnisse zu prämieren. Sie will den Markt zum Naturgesetz erklären.
       
       22 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Herrmann
       
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