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       # taz.de -- Die Wahrheit: Blaue Bohnen im Ural
       
       > Moderner Städtebau: Am russischen Nordpolarmeer entsteht die Metropole
       > Schrödergrad für Millionen eisgestählte Einwohner.
       
   IMG Bild: Höchstpersönlich begab sich Putin auf die Suche nach dem geeigneten Standort der Stadt zu Ehren seines Freundes
       
       In Deutschland hat der umtriebige Altkanzler Gerhard Schröder wieder einmal
       Ärger wegen seiner Alterssicherung: Er wird angefeindet, weil er den
       russischen Energiekonzern Rosneft als Aufsichtsrat verstärken möchte, um
       sich ein paar Rubel hinzuzuverdienen und nebenbei die Weltwirtschaft
       anzukurbeln.
       
       Die Kritik daran wirkt umso kleinlicher, wenn man daneben die Verehrung in
       den Blick nimmt, die Schröder in Russland zuteilwird: Landauf, landab wird
       sein Name gepriesen, von den Oligarchen in der Moskauer Nobelstraße
       Rubljowka bis zum letzten zahnlosen Bauersmann, der Schröders Aufstieg vom
       Einzelhandelslehrling zum Weltpolitiker atemlos mitverfolgt hat.
       
       Aber selbst die ältesten Hasen unter den Kennern der russischen Seele
       hätten es nicht für möglich gehalten, was jetzt im Ural geschieht: Nördlich
       von Workuta, an der Küste der Karasee, einem Randmeer des Nordpolarmeers,
       entsteht Gerhard Schröder zu Ehren eine Mega-City namens Schrödergrad.
       Geplant ist sie für rund 35 Millionen Einwohner, die gewillt sind, bei
       vergleichsweise niedrigen Temperaturen Erdöl zu fördern.
       
       ## Gebäude aus Eis und Schnee
       
       Viele Gebäudekomplexe und öffentliche Einrichtungen stehen bereits wie eine
       Eins – ein Eishockeystadion, das mehr als zweihunderttausend Besuchern
       Platz bietet, eine igluförmige Eishalle für Schlittschuhläufer, eine
       vierzig Werst lange Natureisbahn für den Bobsport, eine sogar mehr als
       zweihundert Werst lange Loipe für Freunde des Langlaufskifahrens, eine
       Rodelbahn, ein Skulpturenpark voller Schneemänner, eine begehbare
       Schneeburg, ein Schneeleopardenhaus, ein Eisbärenzwinger, eine
       Eisbonbonfabrik und ein Eisangelsportvereinsheim.
       
       Ihren größten Ehrgeiz setzen die Stadtentwickler jedoch in den
       Schröder-Tower, einen Wolkenkratzer, der selbst den berühmten Burj Khalifa
       in Dubai noch um vierhundert Meter überragen soll. Wenn er fertig ist,
       werden insgesamt 750 Aufzüge die 309 Stockwerke miteinander verbinden. Als
       besonderen Clou wollen die Architekten in den obersten fünf Etagen eine
       vollständige Volkswagenfabrik installieren – eine augenzwinkernde Hommage
       an den „Automann“ Schröder, der in einem Interview mit der Tageszeitung
       Iswestija vor Kurzem jedem Russen bis zum Jahr 2022 einen Kleinwagen
       versprochen hat.
       
       Auch die Stadtbibliothek von Schrödergrad nimmt Formen an. Katalogisiert
       sind schon jetzt die Werke „Gerhard Schröder. Eine Biographie“ von Béla
       Anda und Rolf Kleine, „Gerhard Schröder. Ein Porträt“ von Jürgen Hogrefe,
       „Gerhard Schröder. Eine Biographie“ von Reinhard Urschel, „Gerhard
       Schröder. Die Biographie“ von Gregor Schöllgen, „Annäherungen“,
       „Reifeprüfung“ und „Entscheidungen“ von Gerhard Schröder sowie „Der Kanzler
       wohnt im Swimmingpool“ von Doris Schröder-Köpf und Ingke Brodersen.
       
       Eröffnet werden soll der Stadtbetrieb im Herbst 2018 mit einem Festakt, für
       den sich unter anderem der Investor Carsten Maschmeyer, der Musiker Klaus
       Meine von den Scorpions, der Pinselschwinger Bruno Bruni, der russische
       Präsident Wladimir Putin, der Unternehmensberater Heino Wiese und andere
       Showbiz-Größen aus Schröders persönlichem Umfeld angesagt haben.
       
       Doch es sind noch allerlei Probleme zu bewältigen: Es müssen Flüsse
       umgeleitet, gewaltige Stollen in das ewige Eis gesprengt und mehrere
       Millionen Menschen umgesiedelt werden, damit das Projekt nicht in letzter
       Sekunde nach hinten losgeht. Die Anrainer drücken den emsig arbeitenden
       Ingenieuren natürlich die Daumen. Für den Ural würde mit der erfolgreichen
       Gründung der Megalopolis Schrödergrad ein neues Zeitalter anbrechen.
       Experten rechnen mit einer Steigerung des Fremdenverkehrs um 2.500 Prozent,
       wenn es gelingen sollte, den Schröder-Tower und den Rest der Stadt
       irgendwann an das zur Zeit noch etwas instabile Stromnetz des Uralgebirges
       anzuschließen.
       
       ## Villa mit Eiskeller
       
       Was die Verantwortlichen zur Stunde aber am stärksten umtreibt, ist die
       Frage, ob Gerhard Schröder selbst sich dazu bereitfinden wird, seinen
       ersten Wohnsitz in Schrödergrad aufzuschlagen. Im Stadtteil Gerdhausen
       steht eine repräsentative Villa mit dreißig momentan noch unbeheizbaren
       Zimmern und einem geräumigen Eiskeller bezugsfertig für den Altkanzler
       bereit.
       
       „Notfalls wir eben müssen verlegen ein fünftausend Kilometer langes
       Verlängerungskabel von Berlin hierher“, sagt der Polier Alexej Sobolew und
       betrachtet missmutig die eingeschneiten Heizpilze auf der Gartenterrasse
       des Hauses. Um freier sprechen zu können, bricht er drei aus seinem
       Überbiss hängende Eiszapfen ab. „Wir diese Stadt für Gerd Schröder haben
       gebaut, und jetzt er soll auch hier wohnen. Für immer! Sonst wir traurig!
       Sonst Krieg! Und blaue Bohnen!“
       
       Nun richten sich alle Augen auf Gerhard Schröder. Wird er die Russen
       brüskieren, indem er ihre Gastfreundschaft in den Wind schlägt? Oder fasst
       er sich ein Herz und nimmt Quartier in einem Eispalast am Nordpolarmeer?
       
       Aus dem Willy-Brandt-Haus liegen noch keine offiziellen Stellungnahmen dazu
       vor. Intern soll der sozialdemokratische Hoffnungsträger Martin Schulz aber
       schon versichert haben, dass er nach seiner Zeit als Bundeskanzler
       allenfalls Kleinstädte nach sich benennen lassen werde.
       
       21 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gerhard Henschel
       
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