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       # taz.de -- Debatte Beißreflexe im Feminismus: Lass dir nichts verbieten!
       
       > In allem einig war sich die Frauenbewegung noch nie. Aber die aktuellen
       > Streitereien lassen sich der jüngeren Generation kaum noch vermitteln.
       
   IMG Bild: Ist das jetzt sexistisch oder feministisch?
       
       Die 17-jährige Tochter einer Freundin fragte mich kürzlich, ob sie es wagen
       solle, Feministin zu werden. Sie sei sich nicht ganz sicher, denn was sie
       dazu gerade lese, mache sie ganz wuschig. Es ginge da irgendwie wild
       durcheinander: Einerseits solle jede Frau dazu stehen, so zu sein, wie sie
       ist und was sie ist: dünn, dick, lesbisch, queer, Single, Mutter,
       Alleinerziehende, Hausfrau, whatever.
       
       Gleichwohl sollte sie bei der Wahl ihres Lebensentwurfs, vor allem dann,
       wenn sie länger mit den Kindern zu Hause bleiben will, immer auch an ihre
       Rente denken. Ebenso seien Ganzkörpertattoos und Brustvergrößerungen voll
       okay, auch Genital-OPs, bei denen die kleinen Schamlippen mitunter aus
       kosmetischen Gründen gekürzt werden.
       
       Wie passt das alles zusammen, fragt sich die 17-Jährige: einerseits die
       Forderung, zu sich selbst zu stehen, auch in aller Unvollkommenheit.
       Andererseits an sich herumschnippeln zu lassen. Auf der einen Seite alle
       Lebensentscheidungen von Frauen gutzuheißen, dann aber Vorschriften zu
       machen bei der Wahl der Familienart, zumindest Bedenken gegenüber
       beispielsweise dem Hausfrauenmodell anzumelden.
       
       Und komplett unverständlich erscheint der Schülerin die aktuelle Schlacht,
       [1][die sich die queerfeministische Szene derzeit liefert]. Vorwürfe wie
       Denk- und Redeverbote und Vokabeln wie „Beißreflexe“ und „Butlerisierung“
       passen nicht in das Feminismus-Bild der jungen Frau.
       
       ## Solidarität war noch nie die Stärke des Feminismus
       
       Die Irritation der 17-Jährigen ist nachvollziehbar. Das mit den zahlreichen
       Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten, die Diskurse um Körperkult und
       körperliche Unversehrtheit kann man noch erklären: Heute kann jede und
       jeder alles machen und alles sein. Aber die Auseinandersetzungen innerhalb
       der queerfeministischen Szene sind außerhalb dieser Community kaum zu
       vermitteln.
       
       Die Gemengelange dort stellt sich – vereinfacht und zugespitzt formuliert –
       so dar: Auf der einen Seite stehen [2][Alice Schwarzer und ihre Zeitschrift
       Emma], die selbsternannte Polittunte Patsy l’Amour laLove und das von ihr
       herausgebene Buch „Beißreflexe“ sowie die „Störenfriedas“, ein Blog, das
       sich als radikal-feministisch bezeichnet. Sie machen Front gegen den
       Queerfeminismus, der in ihren Augen islamistische Gewalt relativiere, weil
       allein schon Kritik am Kopftuch als rassistisch ausgelegt werde.
       
       Auf der anderen Seite stehen Queerfeministinnen wie die Gender-Ikone
       [3][Judith Butler] und die Gender-Wissenschaftlerin Sabine Hark. Sie
       beklagen beispielsweise, dass Schwarzer und Co die Übergriffe auf Frauen in
       der Kölner Silvesternacht für antimuslimische und rassistische
       Ressentiments missbrauchen. Beide Seiten liefern sich eine Medienschlacht,
       die unterlegt ist mit Titeln wie „Die Verleumdung“ und „Rufmord“. Es geht
       um zwei konträre Ansichten auf die Welt, auf Gender und Genderforschung und
       Deutungshoheit.
       
       Was bleibt? Außer der Irritation für Außenstehende? Vielleicht die bittere
       Erkenntnis, dass sich Feministinnen wieder einmal nicht grün sind. Hey,
       möchte man da rufen: Der Feminismus hat es doch schon schwer genug. Reichen
       denn all die Angriffe von AntifeministInnen und PopulistInnen etwa nicht?
       Eure Grabenkämpfe verstärken eher das Bild eines schwierigen und unlebbaren
       Gesellschaftsideals. Das der Feminismus aber mitnichten ist.
       
       ## Dürfen Männer mitstreiken?
       
       Nun war Solidarität noch nie die Stärke feministischer Szenen. Zusammenhalt
       wurde zwar häufig proklamiert, aber nicht in jedem Fall gelebt. Dazu waren
       die Interessen und die Lebensumstände der Aktivist*innen zu verschieden,
       die sozialen wie biologischen Unterschiede zu groß. Manche waren arm,
       andere hatten Geld. Die einen bekamen Kinder, andere nicht. Die einen
       betonen die Unterdrückung durch ein machistisches System, andere stellen
       eher weibliches Selbstbewusstsein und feminine Stärken heraus. Manche
       Frauen machen Karriere – in der Uni, in der Politik, in den Medien. Andere
       empfinden das als Verkauf an den Neoliberalismus. Selbst Prostitution ist
       mittlerweile ein feministisch umkämpftes Feld.
       
       Als die Mauer fiel, hatten Ost- und Westfeministinnen ein sehr großes, sehr
       ernst gemeintes Ziel: eine einheitliche Frauenbewegung in Deutschland. Aber
       sie scheiterten schon bei der Organisation des Frauenstreiktages am 8. März
       1994, der das Land lahm legen sollte, weil Frauen allerorten die Arbeit
       verweigerten: Sie sollten nicht ins Büro gehen und nicht zu Aldi an die
       Kasse. Sie sollten keine Wäsche waschen, sich dem Partner verweigern und
       ihm das Kind auf den Schreibtisch setzen.
       
       Den erwarteten Aufruhr brachte der Frauenstreiktag nicht. Statt geballte
       Kraft in die Organisation des Streiks zu stecken, verzettelten sich die
       Frauen in ausufernden und sich wiederholenden Grundsatzdebatten: Ist es
       unfeministisch, wenn sich Frauen – so wie das Ostfrauen damals gewohnt
       waren – Traktorist, Lehrer und Arzt nennen? Dürfen (feministisch gesinnte)
       Männer mitstreiken? Wohin mit den Kindern bei den Vobereitungstreffen? Und
       dann immer diese Streite um Männer als Gegner. Während die Ostfrauen nicht
       per se gegen Männer kämpften, weil sie durch Vollbeschäftigung, Kitas,
       Abtreibungsrecht einen Emanzipationsvorsprung fühlten, legten Westfrauen
       mehr Wert auf Abgrenzung zu Männern. Bis die Einsicht an Macht gewann, beim
       Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter die Männer nicht zu vergessen,
       brauchte es eine Weile.
       
       ## Weniger Häme wäre ein Anfang
       
       Aber kaum war dieser Konsens hergestellt, taten sich die nächsten
       Baustellen auf: Netzfeministinnen wurden als Hetzfeministinnen beschimpft,
       es war die Rede von einem Feminimus light, Quoten für Führungspositionen
       waren auch unter progressiven Frauen umstritten. Kurz: Heute ist keine
       einfach nur Feministin, sondern bewegt sich auf einem hochexplosiven
       Terrain.
       
       Was tut not? Vielleicht helfen schon ein bisschen weniger Häme und
       Provokation – und ein bisschen mehr Sachlichkeit. Der Tochter der Freundin
       habe ich übrigens gesagt: Sei, wie du bist. Mach das, was du willst. Lass
       dich nicht verbiegen und dir nichts verbieten. Das ist für den Anfang genug
       Feminismus.
       
       21 Aug 2017
       
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   DIR Simone Schmollack
       
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