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       # taz.de -- Musikfest Bremen startet mit Totenklage: Politischer Flamenco nach Barcelona
       
       > Gitarrist Pablo Sáinz Villegas funktioniert beim Musikfest Bremen ein
       > gefälliges Werk zur Totenklage um und erinnert an die jahrhundertelange
       > religiöse Toleranz im maurischen Spanien
       
   IMG Bild: Ein durchaus politischer Ort: Bremer Rathaus und der St. Petri Dom beim Musikfest
       
       BREMEN taz | Als sie auf die Bühne traten, hätten sie vor Rührung fast
       geweint: die Geiger, der Cellist und andere Musiker in der ersten Reihe.
       Dabei war die Situation nicht neu beim Eröffnungsabend des Bremer
       Musikfests am Samstag: Wie die anderen Ensembles des Festivals für Alte
       Musik trat auch das Orquestra de Cadaqués dreimal hintereinander auf, um
       je 45 Minuten lang aufzuspielen.
       
       Beim letzten Konzert um 22.30 Uhr hätten die Musiker das Mitgefühl des
       frenetisch klatschenden Publikums also schon routiniert abperlen lassen
       können. Aber so war es nicht, und das lag an der besonderen Konstellation.
       Denn die Instrumentalisten kamen nicht nur mehrheitlich aus Spanien. Sie
       hätten vorigen Donnerstag, am Abend des Attentats, auch in Barcelona
       auftreten sollen – was natürlich entfiel.
       
       Das Wort „Attentat“ fiel allerdings nur kurz in der Ansprache des
       Musikfest-Chefs Thomas Albert. Zu viel Raum wollte er der Negativität nicht
       geben, sondern Musik gegen Gewalt setzen und helfen, mit allen gemeinsam
       eine „Partitur der Humanität“ zu bilden.
       
       Auch programmatisch unterschied sich das Konzert in Bremens Glocke von den
       zwei vorangegangenen dieses Orchesters. Nicht nur, dass statt deutscher
       Romantiker wie Mendelssohn-Bartholdy und Schumann jetzt ausschließlich
       Spanisches gespielt wurde. Die Ereignisse in Barcelona hatten Joaquin
       Rodrigos romantisch-impressionistische „Concierto de Aranjuez“ auch
       politisch aufgeladen.
       
       Und auf einmal bekam das für Orchester und Gitarre verfasste Werk –
       eigentlich gefällig das idyllische Spanien zeichnend – große Tiefe. Vor
       allem den langsamen Satz formte der Gitarrist Pablo Sáinz Villegas zu einer
       Totenklage, garniert mit ausladenden, dramatischen Gesten. Doch das wirkte
       nicht gekünstelt; die Leute glaubten ihm und tupften sich verstohlen die
       Augen. Klatschten vor Rührung an den unmöglichsten Stellen – etwa wenn der
       Gitarrist mal kurz die Hand von den Saiten nahm.
       
       Aber was normalerweise nervig ist und erfahrene Konzertgänger auf die
       Neulinge herabschauen lässt, verschwand angesichts der allgemeinen
       Solidarität und ging als Geste des Wohlwollens durch.
       
       Überhaupt verlief dieser Klassik-Abend erstaunlich leger: Da legte der
       Gitarrist, obwohl er längst hätte heimgehen können, noch zwei
       Flamenco-Stücke ein – etwa die „Recuerdos de la „Alhambra“ – Erinnerungen
       an die Alhambra. Die Alhambra steht für das „Goldene Zeitalter“ Spaniens,
       auch „al-Andalus“ genannt, als Muslime, Christen und Juden von 711 bis 1492
       friedlich koexistierten – unter arabischer Herrschaft. Auch der Flamenco
       selbst vereint arabische und spanische Elemente. Ein eindringlicher Appell
       also, sich nicht über Abgrenzung, vermeintliche Exklusivität und Gewalt zu
       definieren, sondern über kooperative Traditionen.
       
       Musik schlummert nicht im Elfenbeinturm, so der Subtext dieses Abends.
       Sondern sie ist Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse,
       bewahrt Erinnerung – und hat ganz konkret beschwörende Kraft.
       
       22 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
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