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       # taz.de -- Die Wahrheit: Viagra für die Seele
       
       > Deutsche Sittenkunde, amerikanischer Trend: die lebendigsten,
       > heimeligsten und beliebtesten Bräuche im Teutonenland.
       
   IMG Bild: Die letzten Rituale aus einer fernen Zeit prägen Straßenumzüge
       
       Lange bevor es die trendbehaftete „Bro Culture“ aus Amerika nach
       Deutschland geschafft hat, gab es in unserem Land bereits seit vielen
       hundert Jahren eine ausgeprägte Bruh-Kultur. Alle zwölf von ihrem
       Studienfach begeisterten Germanisten werden jetzt lachen, denn „bruh“ ist
       Althochdeutsch für „Brauch“, und das Brauchtum ist ebenso lebendig in
       Deutschland wie der Sinn für Humor.
       
       Das Brauchtum zeigt sich trotz eines von sich und ihrem Heimatland
       entfremdeten Jungvolks äußerst lebendig. Teile eines jeden Dorfes ziehen
       mindestens einmal im Jahr mit lustigen Hüten bestückt durch die Straßen,
       während der Rest des Dorfes, je nach Alkoholpegel, mürrisch oder klatschend
       am Rand steht. Am nächsten Tag wird sich wieder über die Heckenhöhe beim
       Nachbarn auf der anderen Seite beschwert. Ersteres nennt man Schützen-,
       Karnevals- oder Sonstwasumzug, Letzteres könnte Teil der Leitkultur sein,
       ist aber eigentlich auch nur ein heiß geliebter Brauch der Deutschen.
       
       Neben Umzügen erfreuen sich viele weitere Bräuche auch heute noch großer
       Beliebtheit, darunter diverse Bierbräuche wie der Maibock-Anstich, die
       jedoch nicht mit Bierbäuchen verwechselt werden sollten, die zwar eng mit
       den Bierbräuchen verwandt und ebenfalls fester Bestandteil Deutschlands,
       jedoch keinesfalls identisch sind. Fest steht aber: Hinter jedem großen
       Brauch steht ein starker Trunk, der alles überhaupt erträglich macht.
       
       Doch Bräuche sollte man keinesfalls als rückständig belächeln. Denn Bräuche
       bewahren nicht nur überkommene Weltanschauungen, sie lassen tief in die
       Seele eines Volkes blicken. Beispielsweise der Brauch, dass Männer, die mit
       dreißig immer noch nicht verheiratet sind, die Rathaustreppe fegen müssen.
       Dies dient ausschließlich dazu, ihnen klarzumachen, dass endlich ein Weib
       ins Haus muss: „Mann, willst du wirklich für den Rest deines Lebens selbst
       sauber machen? Geh lieber einer ehrenwerten Arbeit nach, zum Beispiel als
       Beauftragter für Corporate Responsibility bei VW, und lass endlich jemand
       anderen die Drecksarbeit machen.“ Das gilt seit Kurzem natürlich auch für
       homosexuelle Paare, die zwar heiraten dürfen, aber bitte mit einer klaren
       Rollenaufteilung, wie es guter Brauch ist.
       
       ## Maibaum für alte Männer
       
       Wie oben zu erkennen, ist Volkes Seele recht sexistisch eingestellt. Einmal
       Fegen als Mann wird schon als Schande angesehen, während es für die Frau
       die natürliche Ordnung der Dinge darstellt. Auch das Maibaum-Aufstellen ist
       dem Mann gewidmet, genauer, dem alten Mann. Das Aufrichten eines ehemals
       strammen, mittlerweile aber toten Stammes kommt der Einnahme einer Viagra
       gleich, zum einzigen Zeitpunkt, zu dem der aus den letzten Lebensjahren
       pfeifende Mann noch kann und will: im Frühling. Oben noch ein wenig Schmuck
       drauf – und schon klatscht das ganze Dorf. Und das Maifest ist auch ganz
       okay.
       
       Den Wert dieser heimeligen Bräuche für den Zusammenhalt des Ganzen, aber
       auch für das Wohlergehen des Einzelnen, sollte man stets im Kopf haben.
       Außer natürlich beim leidigen Martinssingen. Das ist tatsächlich dreiste
       Schnorrerei eh schon viel zu fetter Kinder.
       
       25 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ernst Jordan
       
       ## TAGS
       
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