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       # taz.de -- Wenn das System versagt
       
       > Privatinitiative Drei junge Hamburger finden, dass zu viele Schüler
       > schlechte Perspektiven haben, den Übergang von der Schule zu ihrem
       > Wunschberuf zu schaffen. Dagegen tun sie jetzt etwas
       
       von Daniel Trommer
       
       Michelle guckt zu Boden, schüttelt den Kopf und sagt immer wieder: „Ich
       mach das nicht, ich mach das nicht!“ Michelle ist auf dem Mut-Camp. Das ist
       eine Vorbereitungswoche für den mündlichen Ersten Schulabschluss (ESA) für
       abschlussgefährdete Schüler in Hamburg. Michelle soll jetzt eigentlich eine
       Präsentation halten. Fünf Tage lang hat sie in einer zwölfköpfigen
       Lerngruppe mit zwei Betreuern geübt. Immer wieder: Aufgaben rechnen, sie
       vor einer kleinen Gruppe präsentieren und dann Feedback erhalten.
       
       Nun ist die Woche zu Ende und die simulierten Abschlussprüfungen stehen an.
       Externe „Prüfer“ sind extra dafür zu der Jugendherberge nach Mölln
       gekommen, in der sich die 36 Teilnehmer vorbereitet haben. Jetzt kommt es
       drauf an. Doch Michelle traut sich nicht. „So mache ich das auch immer in
       der Schule“, sagt sie. „Ich bin vorbereitet, aber dann traue ich mich nicht
       und akzeptiere lieber eine Sechs.“ Doch ihre Präsentationsgruppe ermutigt
       sie immer wieder, so lange, bis sie schließlich mit in den Prüfungsraum
       geht. „Aber ich komme nur mit. Ich präsentiere auf keinen Fall“, sagt sie
       noch über die Schulter, als sie eintritt.
       
       Eine Stunde später kommt sie wieder heraus – und strahlt. „Ich hab’s
       gemacht!“, ruft sie. Andere Teilnehmer des Camps umarmen sie, mit den
       Betreuern schlägt sie ein. „Und die haben mir voll gutes Feedback gegeben!“
       
       Drei Wochen später sitzen die Organisatoren des Camps, Philipp Arlt, Freda
       von der Decken und Natalie Rappert, in Arlts Hamburger WG bei einem Bier
       zusammen. „Für eine mündliche Prüfung braucht man viel mehr Mut, als wenn
       das Material vor einem auf dem Tisch liegt“, sagt Arlt. „Lehrer sagen nach
       dem Camps zu uns: Was habt ihr da gemacht? Die Schülerin macht plötzlich
       mit. Genau das wollen wir erreichen: ihnen Mut geben.“
       
       Die Idee des Camps sei aus einer Notsituation geboren, erzählt Freda von
       der Decken und reibt sich die Augen. Es ist schon spät. Sie alle sind 2014
       über die Bildungsinitiative „Teach First“ Deutschland, des deutschen
       Ablegers des weltweiten Netzwerks „Teach for all“, nach Hamburg gekommen.
       „Teach First“ vermittelt Uni-Absolventen für zwei Jahre als Lehrer auf Zeit
       an Schulen. „Ich sollte in meiner Schule zehn Schüler auf den Abschluss
       vorbereiten. Sie waren alle schon einmal durchgefallen“, erzählt von der
       Decken. „Die Schüler sind teilweise aus dem Fenster geklettert oder haben
       die Türe zugehalten, wenn ich kam. Es war eine komplette Katastrophe. Ich
       bin überhaupt nicht an sie rangekommen. Den anderen ging es ähnlich.“
       
       Daraus entstand die Idee der Mut-Camps für ihre abschlussgefährdeten
       Schüler. „Sie haben Widerstand, innerhalb der Schule zu lernen. Sobald man
       sie rausholt, an einen anderen Ort, mit anderen Lehrern, entwickeln sie
       eine ganz andere Einstellung, eine größere Neugierde“, sagt Philipp Arlt.
       
       Zwei Jahre lang haben die Drei die Camps nebenher organisiert – an Abenden
       und Wochenenden. „Und manche unserer Betreuer nehmen sich sogar extra
       Urlaub, um dabei zu sein“, schwärmt Arlt. Das Geld für die Camps kommt aus
       Teilnehmerbeträgen von 30 Euro, vor allem aber von Stiftungen und
       Unternehmen wie zum Beispiel Barclay Card. Außerdem haben sie im Juni einen
       mit 40.000 Euro dotierten Preis der Münchner
       Social-Entrepreneurship-Akademie gewonnen.
       
       Sie hätten gemerkt, erzählt Freda von der Decken, dass die Teilnehmer des
       Mut-Camps in der kurzen Zeit eine enge Bindung zu ihnen aufbauen. Da sie
       sich weitere Unterstützung wünschen, soll es jetzt die Mut-Academy geben.
       Also sollen die Schüler, die es wünschen, nach dem Ersten Schulabschluss
       ein Jahr lang begleitet werden. Wie das genau aussehen kann, muss der erste
       Durchlauf im kommenden Jahr zeigen. Es geht dabei vor allem um die Schüler,
       die einen schwachen Abschluss gemacht haben und noch schulpflichtig sind,
       die nicht in andere Programme vermittelt worden sind und jetzt
       perspektivlos „im zehnten Schuljahr rumhocken“, wie es Arlt ausdrückt. Sie
       sollen zu einem für sie passenden Anschluss, ob das eine Ausbildung oder
       gar ein höherer Schulabschluss ist, begleitet werden. Erreichen will die
       Mut-Academy das durch Mentoring und zwei weitere Camps in Mölln.
       
       Michelle weiß jetzt schon, dass sie auch bei der Academy dabei sein will.
       „Ich kann mich da viel besser konzentrieren als in der Schule“, sagt sie.
       In der Schule laufe das mit dem Bewerbungenschreiben nicht gut. Lehrer
       seien bei Fragen oft genervt. Aber die Leute von der Mut-Academy, sagt sie,
       seien „so gechillt“.
       
       Daniel Trommer macht bei der taz in Hamburg ein Praktikum. Er war selbst
       über „Teach First“ zwei Jahre an einer Hamburger Schule.
       
       26 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Trommer
       
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