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       # taz.de -- Geflüchtete in der Provinz: Die Welt in einem Dorf
       
       > 2015 kamen sechzig Flüchtlinge nach Röthenbach im Allgäu, zum Beispiel
       > Ali und Fatima Rahimi. Die beiden arbeiten heute im Landgasthof Post.
       
   IMG Bild: „Dieses Dorf ist unsere Chance“ – Röthenbach im Voralpenland
       
       Röthenbach taz | Im Radio kündigen sie den heißesten Tag des Jahres an, und
       im Landgasthof Post – schräg gegenüber der Kirche und dem Friedhof – bieten
       sie Fremdenzimmer und Schweinshaxe an. In der Küche der Wirtschaft, im
       Familienbesitz seit 1926, wartet Ali Rahimi über dem Topf mit sprudelndem
       Wasser, bis die buttergelben Spätzle nach oben steigen. Dann schöpft er sie
       ab und wirft sie in einen Eimer mit kaltem Wasser. Mit den Schulferien
       läuft die Hochsaison an und der 47-Jährige, der mit seiner Familie seit
       knapp zwei Jahren in Röthenbach lebt, hilft hier dem Wirt.
       
       Sein Chef Peter Dercks, ein kräftiger Endfünfziger, hat ihn nach einem
       Praktikum im vergangenen Herbst eingestellt. Dass in seiner Küche ein
       afghanischer Flüchtling arbeitet, sei aus „einer Notsituation heraus“
       entstanden, denn der Wirt findet niemanden, der abends und am Wochenende
       arbeiten will. „Den Deutschen geht’s zu gut“, findet Dercks. Also hat er es
       mit Ali Rahimi probiert, und es läuft bestens mit den beiden – bis auf die
       Sprache. „Ich verstehe nicht, was er sagt, und er versteht nicht alles, was
       ich sage.“
       
       Rahimi, in Küchenschürze und grünem T-Shirt mit dem Emblem des Gasthofs,
       nickt und lacht, sein Gesicht legt sich dabei in Falten. Die Arbeit gefällt
       ihm, der Chef und dessen Frau – er nennt sie Frau Brigitte – seien sehr
       nett. Dass in der Wirtsstube unter dem Kruzifix Schweinshaxe serviert wird,
       ist kein Problem für Rahimi, der früher Gemüsegroßhändler war. „Ich selber
       esse kein Schwein, aber die anderen sollen ruhig.“
       
       Röthenbach, ein Dorf mit 1.800 Einwohnern, dessen Bevölkerungszahl sich
       seit 1840 nicht wesentlich verändert hat, liegt zwischen den Hügeln des
       Voralpenlands. Zum Bodensee fährt man eine halbe Stunde, nach Österreich
       eine Viertelstunde. Im Dorf gibt es einen Bäcker, zwei Lokale, eine
       Grundschule, eine Kirche, ein Pfarrheim, eine Musikkapelle und ein
       beheiztes Freibad. Die CSU fällt bei Wahlen nie unter 43 Prozent, bei den
       Landtagswahlen in den Achtzigern lag sie mal bei 68 Prozent. Wer hier
       geboren ist, liebt die Berge und die grünen Wiesen. Tradition wird
       hochgehalten, Beständigkeit ist ein Wert an sich. Viele bleiben im Dorf,
       manche waren nie woanders. Wer sich in Röthenbach auf der Straße begegnet,
       grüßt sich beim Vornamen. Wer neu ist im Dorf, fällt auf.
       
       ## „Neigschmeckte“
       
       Die Menschen, die im Herbst 2015 durch den Ortskern liefen, fielen auf,
       denn sie waren den Allgäuern noch fremder als die „Preißn“ und die anderen
       „Neigschmeckten“. Sechzig Flüchtlinge kamen ins Dorf. Röthenbach sollte
       die neue Heimat für Menschen aus Afghanistan, Eritrea, Syrien, Guinea und
       dem Senegal werden. Die Röthenbacher sprechen heute von der „großen Welle“.
       
       Fragt man Stefan Höß, wie es diesen Ort verändert, wenn die Welt ins Dorf
       kommt, dann ist die Antwort: „Gar nicht.“ Stefan Höß ist bei den Freien
       Wählern und der Bürgermeister von Röthenbach, mit seinen 36 Jahren der
       zweitjüngste im Landkreis Lindau. Als „die große Welle“ kam, war er noch
       keine anderthalb Jahre im Amt. Höß, kariertes Kurzarmhemd und
       Gürtelschnalle mit dem Schriftzug „Allgäu“, zögert damals, im Herbst 2015,
       nicht. Er inseriert im Gemeindeblatt, dass er Wohnungen „für unsere
       Asylbewerber“ brauche und bringt die Flüchtlinge dezentral unter. Eine
       Maßgabe vom Landkreis, für die der Bürgermeister viel Lob aus der
       Bevölkerung bekommt. „Ich habe nie ein böses Wort aus der Bevölkerung
       gehört. Klar, ein paar hatten Angst, wohin das führen soll, wenn sechzig
       Asylbewerber kommen. Aber am Ende sind sie durchweg positiv aufgenommen
       worden.“
       
       Schnell bildet sich 2015 ein Helferkreis, der einen Deutschkurs organisiert
       und einen Fahrdienst für Einkäufe und Termine beim Amt einrichtet. Zum
       nächsten Supermarkt sind es acht Kilometer, der Bus fährt dreimal am Tag.
       Manche der zwanzig Ehrenamtlichen habe der Bürgermeister im Überschwang der
       Willkommenskultur anfangs etwas bremsen müssen. „Die Freiwilligen waren
       übermotiviert und wollten die Flüchtlinge zu sehr bemuttern“, erzählt
       Stefan Höß in seinem Büro in der ersten Etage des Rathauses, eine Gehminute
       vom Gasthof Post entfernt. Er ist überzeugt davon, dass die Flüchtlinge
       „selber auf die Füße kommen müssen“. Wenn ein Flüchtling ein paar Mal nicht
       zum Deutschkurs kommt, ruft der Bürgermeister ihn an und hakt nach. „Das
       war schon ein ganz schöner Brocken, bis das alles organisiert und am Laufen
       war“, sagt er. Um schnell hinzuzufügen: „Aber ich traue mich zu behaupten,
       dass wir das in Röthenbach wirklich gut geschafft haben.“
       
       ## „Lauter Schwarze“
       
       Wenn es doch mal Probleme gibt, kümmern sich Monika und Helmut Schumann*.
       Seit dreißig Jahren engagiert sich das Ehepaar aus Norddeutschland, das
       1986 einen Bauernhof in Röthenbach gekauft hat, für Flüchtlinge im Allgäu.
       Damals kamen Tamilen in einen Nachbarort von Röthenbach, später Boat People
       und „dunkelhäutige Menschen, das ging durch die Presse, die Leute hatten
       Angst um ihre Töchter“, sagt Monika Schumann. Die Schumanns nahmen selbst
       zwei vietnamesische Mädchen als Pflegetöchter bei sich auf. In dieser Zeit
       seien Flüchtlingsbetreuer bedroht worden – auch heute noch wollen sie
       deshalb anonym bleiben. „Wir wurden damals als Störenfriede betrachtet.“
       
       Heute ist der Bürgermeister froh um die Asylarbeit des Paars. Als im Herbst
       2015 der Busfahrer 13 Eritreer zwei Stunden zu früh in einem kleinen
       Röthenbacher Wohngebiet absetzte, rief Stefan Höß bei den Schumanns an.
       Gerade habe, so Höß am Telefon, der dritte Anwohner aus der Siedlung
       angerufen und gesagt: „Da laufen lauter Schwarze durch unsere Gärten.“
       
       Knapp zwei Jahre nach dem Sommer der offenen Grenzen leben von den sechzig
       Flüchtlingen noch dreißig in Röthenbach. Manche sind weitergezogen in die
       nächste Kleinstadt oder zu Verwandten in die Großstadt. Zwei sind vor der
       Abschiebung verschwunden. Wer geblieben ist, spielt im Sportverein Fußball
       oder Volleyball. Das Asylverfahren haben die meisten abgeschlossen, Jobs
       suchen viele noch.
       
       ## „Dieses Dorf ist unsere Chance“
       
       Drüben in der Wirtschaft bereitet Ali Rahimi Gurkensalat fürs Mittagessen
       vor, er schüttet Salz, Essig und Öl über die gehobelten Gurken und schmeckt
       ab. Seine Frau Fatima kommt mit einem Korb Wäsche durch die Tür. Der Wirt
       hat sie als Zimmermädchen eingestellt, weil er auch für die Zimmer kein
       Personal gefunden hat. Ihr 16-jähriger Sohn Aryan, der älteste, schenkt in
       den Ferien am Tresen Bier aus.
       
       Im ersten Stock klopft Fatima Rahimi, 33, an die Tür von Zimmer 1, öffnet
       und ruft „Hallo“, die Gäste sind schon weg. Sie reißt das Fenster auf,
       schüttelt die zerknüllte Bettdecke und das Kopfkissen auf. Am Schluss ein
       Knick ins Kissen. Sie sei froh, arbeiten zu können, aber wenn sie die
       Sprache kann, sagt sie, will sie nicht mehr putzen, sondern kochen, am
       liebsten afghanisch.
       
       Zu Hause, in jenem schattigen Haus, das abgerissen worden wäre, wenn
       Familie Rahimi nicht nach Röthenbach gekommen wäre, sagt sie: „Anfangs
       hatte ich einen Kulturschock.“ Aryan, ihr Sohn, übersetzt für sie. „Die
       ersten drei Nächte waren schwierig, ich hatte Angst, weil das Haus hier
       allein steht. Aber dann haben wir gesehen, dass es ein Dorf gibt.“ Heute
       rufen ihr die Frauen im Dorf „Hallo Fatima“ zu, wenn sie sie sehen.
       
       Vier Frauen helfen der Familie im Alltag, eine macht Deutschübungen mit
       Fatima Rahimi, eine fährt sie einmal in der Woche mit dem Auto zum
       Einkaufen in die nächste Kleinstadt, zwei unterstützen sie mit den Ämtern.
       Zu Weihnachten waren sie bei ihrer Nachbarin, Frau Sabine, eingeladen. Im
       Dorf kümmern sich die Menschen, sagt Fatima Rahimi. „Dieses Dorf ist
       unsere Chance.“
       
       *Namen von der Redaktion geändert.
       
       27 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elisabeth Kimmerle
       
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