URI: 
       # taz.de -- Neapelsaga von Elena Ferrante: Für immer abhauen
       
       > Der dritte Band des Jahrhundertepos schildert die Erwachsenenjahre der
       > Protagonistinnen. Es geht mitten in die wilden 1970-er Jahre in Italien.
       
   IMG Bild: Neapel, Schauplatz des Epos
       
       Elena Ferrante hat die große Erzählung Nachkriegsitaliens geschrieben. Ihr
       Romanepos entlang der beiden Frauenfiguren Lila und Elena begeistert
       Publikum und Literaturkritik. Ausdauernd, anhaltend, und das zu Recht. Nun
       erscheint der dritte Band ihres viergliedrigen Werks auf Deutsch, „Die
       Geschichte der getrennten Wege“ in der Übersetzung Karin Kriegers im
       Suhrkamp Verlag.
       
       Ferrante – der Autorinnenname ist ein Pseudonym – ist mit ihrer Neapelsaga
       nach 50er- und 60er-Jahren in den 70ern angekommen, der Zeit der harten
       Konfrontationen in Italien. Ihre Figuren sind nun über 20 Jahre alt,
       gründen Familien, arbeiten, ihre Biografien sind zusehends definiert. Um
       sie herum toben Kämpfe. Arbeiter und Studenten begehren gegen
       konservativ-katholischen Lebensstil und sagenhaft ausbeuterische
       Lebensverhältnisse auf. Geschlechter und Generationen stehen unter
       Modernisierungsdruck, viele suchen nach neuen Rollen.
       
       Lila hat ihren gewalttätigen Ehemann, den Juniorchef eines lokalen
       Camorrazweigs, verlassen. Nach einer kurzen Phase einer wilden Ehe mit dem
       Schöngeist Nino lebt sie in einer (platonischen) Beziehung mit ihrem
       proletarischen Jugendfreund Enzo im (tatsächlich existierenden)
       neapolitanischen Stadtteil San Giovanni a Teduccio. Dort schuftet sie in
       einer Wurstfabrik. Selbst diese miese Anstellung hat sie nur durch ihre
       Verbindungen aus dem Rione bekommen, dem schäbigen Viertel Neapels, in dem
       sie und ihre Freundin Elena aufwuchsen. Mithilfe des selbstlosen Enzo, der
       nachts im Fernstudium zusätzlich zur Arbeit Informatik büffelt, hält Lila
       sich und ihren Sohn aus früherer Verbindung über Wasser. Die
       Arbeitsbedingungen in der Wurstfabrik sind wüst, „die Überanstrengung trieb
       die Leute dazu, nicht zu Hause, wohin sie völlig erschöpft und lustlos
       zurückkehrten, mit ihrer Frau oder ihrem Mann zu ficken, sondern dort, auf
       der Arbeit, vormittags oder nachmittags.“
       
       ## Wurstige Fabrik
       
       Rabiat weist Lila die Anzüglichkeiten der Männer zurück. Angewidert
       beobachtet sie, die intellektuell Überlegene und unnahbare Außenseiterin,
       das Geschehen. „Die Männer grapschten bei jeder Gelegenheit und machten,
       selbst wenn sie nur vorübergingen, eindeutige Angebote, und die Frauen,
       besonders die nicht mehr so jungen, lachten, drängten sich mit ihrem großen
       Busen dicht an ihnen vorbei und verliebten sich, die Liebe wurde zu einer
       Ablenkung, die die Müdigkeit und den Überdruss dämpfte und ein Gefühl von
       wahrem Leben vermittelte.“ Lila legt sich mit dem Fabrikchef an, einem
       Camorristi, der sie bedrängt und in dem undurchsichtigen Netzwerk der
       Verbrechersyndikate eine Größe darstellt.
       
       Schon bald erreichen in Ferrantes Geschichte die eskalierenden
       Auseinandersetzungen zwischen politischer Linker und Rechter auch Lilas
       Fabrik. Am Ende fallen gar Schüsse. Mittendrin Lila und die alten
       miteinander verwobenen Freunde und Feinde aus dem Rione. Sie prügeln
       aufeinander ein; die einen auf der Seite von Camorra und faschistischer
       Rechter, die anderen bei den Kommunisten und der militanten Linken, die, um
       sich zu wehren, zum Gegenangriff übergeht – dabei selbst blind vor Wut,
       
       Lila schien am Ende von Band 2 zu gesellschaftlichem Abstieg sowie Ausstieg
       aus den neapolitanischen Familienclans bereit. Doch im Fortgang der
       Geschichte scheint ihr der Bruch mit der eigenen Herkunft nun zunehmend
       zwecklos, außergewöhnliche Begabung und Renitenz hin oder her. Freundin
       Elena und Freund Enzo eröffnen ihr zwar die Möglichkeit, sich in der neu
       aufkommenden Informatikbranche zu etablieren. Lila wird dies auch tun, aber
       sich erneut in das Gestrüpp familiärer Herkunft und Abhängigkeit begeben.
       
       Ferrante verfasst auch den dritten Band ihrer Tetralogie kunstvoll aus der
       Perspektive ihrer Hauptfigur Elena Greco, Lilas Freundin aus Kindertagen.
       Im Gegensatz zu Lila bleibt Elena ihrem Weg – Aufstieg und Emanzipation
       durch Bildung – treu. Durch Elena beschreibt und bewertet die Autorin Lilas
       Entwicklung sowie die der anderen Romanfiguren, hält (getränkt mit heutigem
       Wissen) Rückschau, kommentiert das, was die beiden Frauen in den 1970er
       Jahren erleben.
       
       Elena, die unter den harschen Urteilen und dem konkurrierenden Auftreten
       Lilas leidet, verliert ihre Freundin zunächst aus den Augen. Sie studiert
       mit einem Begabtenstipendium an einer Elitehochschule in Pisa. Dort lernt
       sie das bis dahin größtenteils der Oberschicht vorbehaltene
       Intellektuellenleben kennen; auch den diskreten Charme linksbourgeoiser
       Männer, die so ganz anders zu lieben und leben scheinen als die aus dem
       atavistischen neapolitanischen Rione.
       
       Ferrante lässt ihre euphorische Doktorandin Elena Greco einen feministisch
       angehauchten Entwicklungsroman schreiben, der wegen seiner „gewagten
       Szenen“ reißenden Absatz findet. Die bürgerlich-linke Elite, in der sie
       verkehrt, sympathisiert mit der linksautonomen Massenrevolte. Doch Elena
       bleibt voller Selbstzweifel. Was würde Lila in der Wurstfabrik zu ihrem
       Roman sagen? Und schmückt sich die ach so aufgeklärte Bourgeoisie nur mit
       ihr als einer erfolgreichen, aber letztlich naiven Akademikerin, einer
       fleißigen Portierstochter aus dem plebejischen Teil Neapels? Wo ist ihr
       tatsächlicher Platz im Leben?
       
       ## Schickes Florenz
       
       Etwa in Florenz, an der Seite des Jungprofessors aus dem mondänen und links
       angehauchten Geschlecht der Airota, „der kulturvollsten aller Familien, die
       in Italien etwas zählen“, in das sie einheiraten wird? Wohin mit den
       Schatten der Vergangenheit, den ungehobelten Gestalten aus ihrer Kindheit,
       der hinkenden bösartigen Mutter, den Geschwistern, die sich zusehends in
       die Abhängigkeit der Camorraclans begeben. Elena ist zum Bruch mit ihrer
       elenden Herkunft bereit. Aber nicht um den Preis von Verrat oder Anpassung
       an das bourgeoise System.
       
       Dieses lernt sie in Gestalt ihres Ehemanns schon bald zur Genüge kennen.
       Pietro, „ein Langeweiler“, aber Feingeist mit an sich guten Manieren, nimmt
       sie lieblos und sexuell stumpf zwischen Abendessen und seinen nächtlichen
       philosophischen Studien. Und hängt ihr dabei zwei Kinder an. Dottoressa
       Greco wird bald keine Reportagen für die (kommunistische) Tageszeitung
       Unità mehr schreiben. Dank des Ehelebens mit alleiniger Kinderaufzucht und
       Haushaltsführung droht sie aus der Öffentlichkeit wieder zu verschwinden.
       Und so sucht auch sie, wie am anderen gesellschaftlichen Ende ihre
       alleinerziehende Freundin Lila in der neapolitanischen Wurstfabrik, im
       schicken Florenz nach einem Ausweg. Bei den linken Oberschichtfreundinnen
       aus der Airota-Szene finden sie diesen ebenso wenig wie bei den
       Student(inn)en in den besetzten Hörsälen oder den Kommunen. Schließlich
       wird sie wie ihre Freundin Lila eine Verbindung aus dem alten
       neapolitanischen Rione suchen, die scheinbar die entscheidende Wendung
       bringen soll.
       
       Ferrantes dritter Band entfaltet über ein weit verzweigtes und
       psychologisch fein ausgestaltetes Personentableau ein bezeichnendes
       Panorama der 1970er-Jahre in Italien. Nicht ohne eine Brise Bitterkeit
       resümiert die Romanautorin die frühen Erwachsenenjahre ihrer Frauenfiguren,
       deren Emanzipation nach 1968 auf halbem Wege stecken bleibt. Ob
       Mafia/Camorra, linksradikale Bewegung oder Bildungsbürgertum: Haushalt und
       Kinder bleiben weiterhin zumeist an den Frauen kleben. Und das, obwohl
       viele gerade die am unabhängigsten erscheinenden Frauen am meisten
       begehren.
       
       Ferrantes Bände 1 und 2 bestechen durch ihre Kinder- und
       Jugendlichenperspektive, die neue Offenheit, als die kapitalistische
       Modernisierung im Nachkriegsitalien auch die Unterschichten erfasst und
       einigen neue Chancen eröffnen. Band 3 spricht von einem Backlash.
       
       Ob das alte System sich Elena und Lila wieder zurückholt? Das wird erst der
       abschließende Band 4 dieses Jahrhundertwerks erzählen.
       
       26 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
   DIR Elena Ferrante
   DIR Neapel
   DIR Camorra
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
   DIR Neapel
   DIR Bauhaus
   DIR Elena Ferrante
   DIR Elena Ferrante
   DIR Elena Ferrante
   DIR Neapel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Elena Ferrantes grandiose Neapel-Saga: Gefährlicher als das Heroin
       
       Der krönende Abschluss eines erzählerischen Jahrhundertwerks: „Die
       Geschichte des verlorenen Kindes“ von Elena Ferrante.
       
   DIR Krippenbauer in Neapel: Von Madonnen und Monstern
       
       Beim Krippenspiel geht es um den Kampf zwischen Gut und Böse. In Neapel
       erzählt jeder Krippenbauer eine eigene Weihnachtsgeschichte.
       
   DIR Debüt-Roman „Blaupause“: Zwischen Festen und Manifesten
       
       Theresia Enzensberger erzählt in ihrem ersten Roman im Bloggerstil von
       einer jungen Frau, die sich mit Bauhaus-Patriarchen herumschlägt.
       
   DIR Band 2 von Elena Ferrantes Neapel-Saga: Puder über dem Grauen
       
       Ferrantes Erzählung handelt von Liebe, Sex und Adoleszenz im Italien der
       sechziger Jahre. Die Geschichte zweier ungleicher Freundinnen.
       
   DIR Um ihr Inkognito betrogene Autorin: Liebesbrief an Elena Ferrante
       
       Sie erzählt von zwei Mädchen in einer von Männern dominierten Welt. Wie
       aber vermarktet man die scheue Elena Ferrante? Ein Besuch bei Suhrkamp.
       
   DIR Autorin Elena Ferrante ist „enttarnt“: Eine gar nicht geniale Recherche
       
       Keine Begegnung. Keine Homestory. Keine Bilder. Nun wurde der echte Name
       von Elena Ferrante bekannt. Gewonnen ist dadurch gar nichts.
       
   DIR Neapel-Saga von Elena Ferrante: Europa vor nicht allzu langer Zeit
       
       Elena Ferrantes Jahrhundertepos „Meine geniale Freundin“ handelt von Liebe,
       Emanzipation und der italienischen Klassengesellschaft.