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       # taz.de -- Berliner Arbeitsmarkt: „Minijobs sollten abgeschafft werden“
       
       > Wer arbeitet, sollte darüber auch abgesichert sein, sagt Viveka Ansorge
       > vom Senatsprojekt JobOption. Bei Minijobs würden Arbeitnehmerrechte sehr
       > oft nicht eingehalten.
       
   IMG Bild: In der Reinigungsbranche gibt es besonders viele Minijobs
       
       taz: Immer mehr BerlinerInnen haben Minijobs, zunehmend als Nebenjob zu
       einer anderen Beschäftigung. Woran liegt das? 
       
       Viveka Ansorge: Viele Leute machen neben einer
       sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung einen Minijob, weil
       sie dabei keine Steuern und Sozialabgaben abführen müssen. So kommen sie
       netto auf ein höheres Gesamteinkommen als mit einer
       sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstelle. Und in bestimmten Branchen
       sind auch immer mehr solcher Minijobs zu finden.
       
       Welche Branchen sind das? 
       
       Das ist der Bereich Pflege, die Gastronomie, die Reinigungsbranche oder der
       Einzelhandel, wo zum einen sehr flexible Einsatzzeiten der
       ArbeitnehmerInnen gefragt und zum anderen die Löhne sehr niedrig sind. Da
       hat dann etwa die Pflegekraft mit einer sozialversicherungspflichtigen
       Teilzeitstelle in einem Krankenhaus noch einen Minijob bei einem ambulanten
       Pflegedienst. So kommt sie am Ende zu mehr Nettoeinkommen und kann zudem
       ihre Arbeitszeiten etwas flexibler gestalten als mit einer Vollzeitstelle.
       Denn als MinijobberIn kann man eher mal eine Schicht ablehnen als als
       Festangestellter.
       
       Das ist für den Arbeitgeber ja eher ein Nachteil. Warum lässt der sich denn
       auf Minijobs ein? 
       
       Das hat vor allem zwei Gründe: Einer ist, dass bei Minijobs sehr oft
       Arbeitnehmerrechte nicht eingehalten werden. So wird etwa kein bezahlter
       Urlaub gewährt oder es werden keine Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall
       geleistet. Das führt dann auch dazu, dass sich geringfügig Beschäftigte
       erheblich seltener krank melden als Festangestellte, auch weil diese ihre
       Rechte nicht kennen – ein weiterer Vorteil für Arbeitgeber.
       
       Und der zweite? 
       
       Mit den Minijobs lassen sich Löhne drücken. Da, wo der Tariflohn für
       sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bei sagen wir mal 11,50 Euro in
       der Stunde liegt, wird dann den MinijobberInnen eben nur 8,50 gezahlt – mit
       der Begründung, dass sie ja nichts abführen müssten.
       
       Aber wenn sie dann am Ende netto mehr haben, sind doch alle zufrieden,
       oder? 
       
       Kurzfristig vielleicht. Das dicke Ende für die MinijobberInnen kommt dann
       mit dem Rentenbescheid. Da geht’s meist direkt in die Altersarmut
       beziehungsweise die Grundsicherung. Und das trifft vor allem Frauen, die
       besonders oft Minijobs annehmen, meist als Zuverdienst zum Einkommen des
       Mannes und als besser vereinbar mit der Familienarbeit als ein fester Job.
       
       Also noch mal die Frage: Warum lassen sich ArbeitnehmerInnen dann auf diese
       Beschäftigungsform ein? 
       
       Minijobs sind sicher ganz attraktiv etwa für Studierende, die ein bisschen
       was dazuverdienen wollen und später als AkademikerInnen immer noch genug
       für ihre Rente tun können. Für alle anderen gilt aber: Würden sie in ihren
       sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen auskömmlich verdienen, also
       genug für Miete und sonstige Lebenshaltungskosten und eventuell mal einen
       Urlaub, dann würden sie sicher keinen Minijob nebenbei machen.
       
       Was bedeuten die Minijobs für den Arbeitsmarkt? 
       
       Minijobs gibt es vor allem in Niedriglohnbranchen, und viele dieser
       Branchen setzen mittlerweile auf MinijobberInnen. Wir haben im Bereich
       Gebäudereinigung mittlerweile etwa 50 Prozent sozialversicherungspflichtig
       Beschäftigte und 50 Prozent MinijobberInnen, in der Gastronomie ist es
       ebenso. Das zementiert wiederum die niedrige Entlohnung in den Branchen.
       
       Wie denn? 
       
       Indem die MinijobberInnen ja auch quasi in Konkurrenz zu
       sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stehen. Wenn ich einer
       ausgebildeten Verkäuferin für Arbeit am Wochenende oder in den Abendstunden
       Zulagen nach Tarifvertrag zahlen muss, setze ich doch lieber einen
       schlechter bezahlten Studenten mit Minijob an die Kasse.
       
       Aber der Mindestlohn gilt doch auch für geringfügig Beschäftigte? 
       
       Ja, ebenso wie andere Arbeitnehmerrechte bis hin zur aktiven und passiven
       Teilnahme an Betriebsratswahlen. Und auch die Zulagen für Spätdienste oder
       Wochenendarbeit muss der Arbeitgeber geringfügig Beschäftigten eigentlich
       zahlen. Nur wissen viele MinjobberInnen das nicht. Und die Gewerkschaften
       erreichen die geringfügig Beschäftigten bislang unzureichend.
       MinijobberInnen sind in den Unternehmen eben auch nicht so präsent wie
       Festangestellte. Die Bindung an die Betriebe ist meist nicht so stark und
       damit auch die Bereitschaft zu Engagement. Das Arbeitsverhältnis ist
       unverbindlicher.
       
       – etwa bezahlter Urlaub oder Lohnfortzahlungen bei Krankheit nicht
       gewährtDer Senat wollte mit dem Projekt JobOption aus Minijobs
       sozialversicherungspflichtige Jobs machen. Warum? 
       
       Zum einen steckt in den oft unterhalb ihrer Qualifikation beschäftigten
       MinijobberInnen Potenzial zur Fachkräftesicherung. Zum anderen entgehen dem
       Staat mit den Minijobs natürlich auch Beiträge zu den Sozialversicherungen.
       Außerdem gibt es gerade in Berlin auch sehr viele sogenannte Aufstocker
       unter den geringfügig Beschäftigten: also Menschen, die neben einem Minijob
       noch staatliche Leistungen beziehen, um überhaupt überleben zu können. Auch
       das kostet den Staat Geld.
       
       Wie erfolgreich war das Projekt? 
       
       Es gibt Arbeitgeber, die sehr dankbar sind über entsprechende Aufklärung
       und Hilfen bei einer besseren Personalplanung. Aber es gibt eben auch die,
       denen es vor allem um die niedrigen Lohnkosten und die Unverbindlichkeit
       geht. Die kann man kaum überreden, vorhandenes Personal etwa durch
       Weiterbildungen in qualifiziertere Beschäftigung zu bringen.
       
       Auch die Jobcenter vermitteln ja in Minijobs.
       
       Ja, weil eine Vermittlung in einen Minijob aus ihrer Perspektive besser ist
       als keine Vermittlung.
       
       Was ist Ihre Bilanz: Sollten Minijobs abgeschafft werden? 
       
       Ja, unbedingt. Der Minijob war und ist das Einfallstor für Arbeit, die
       nicht besteuert wird und für die keine Sozialabgaben anfallen. Aktuell geht
       diese Entwicklung jetzt weiter in Richtung der so genannten Gig-Ökonomie,
       wo Arbeitnehmer im Prinzip wie freie Unternehmer behandelt werden und wo
       jeder Job ein Einzelauftrag ist wie etwa bei den Fahrradkurieren. Da gibt
       es überhaupt keine Verbindung mehr zwischen Beschäftigung und sozialer
       Absicherung. Dem hat der Minijob den Weg geebnet.
       
       29 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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