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       # taz.de -- Kolumne Fremd und befremdlich: Der alltägliche Stau vorm Schultor
       
       > Nichts kann Eltern heutzutage daran Hindern, ihre Kinder mit dem Auto bis
       > vor die Schule zu fahren. Dabei hilft das Alleinegehen auch beim
       > Großwerden.
       
   IMG Bild: Frommer Wunsch: Verkehrswacht und Landeselternrat fordern Elterntaxis einzustellen
       
       Als ich ein Kind war, haben die Eltern ihre Kinder schon deshalb nicht zur
       Schule bringen können, weil sie alle bereits auf ihrer eigenen
       Arbeitsstelle waren. Meine Eltern besaßen kein Auto. Ich weiß nicht, ob sie
       mich irgendwo hingefahren hätten, wenn sie eines besessen hätten.
       
       Es war in dieser Zeit so, dass Kinder, ab dem Tag ihrer Einschulung, die
       Verantwortung für ihre Angelegenheiten übernehmen mussten. Das resultierte
       natürlich auch daraus, dass beide Eltern den ganzen Tag arbeiten gingen.
       Außerdem war es gesellschaftlich gefordert, es hatte vermutlich auch etwas
       mit sozialistischer Erziehung zu tun, man sollte rasch ein nützliches
       Mitglied der Gesellschaft werden. Da es in unserem Dorf keine Schule gab,
       mussten wir den Bus nehmen, das Fahrrad, und oft genug auch zu Fuß gehen,
       mehrere Kilometer durch den Wald, vor allem im Winter, wenn der Bus wegen
       der Glätte nicht fuhr.
       
       Als ich mein eigenes Kind am ersten Tag in eine Hamburger Schule
       begleitete, begegnete ich dort dem, was jetzt das „Elterntaxi“ genannt
       wird. Ich hätte es damals „das Müttertaxi“ genannt, denn es waren vor allem
       Mütter, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule brachten.
       
       Die Autos stauten sich vor der Schule, und mir wurde klar, dass mein Kind,
       das zukünftig den Schulweg allein bewältigen sollte, täglich vor der Schule
       in eine Art kleineres Verkehrschaos geraten würde. Zu viele Eltern wollten
       gleichzeitig am selben Ort halten, sich verabschieden, wenden und wieder
       fahren. Es hätte einen großen Platz für diese vielfältigen Manöver
       gebraucht, es gab aber nur eine schmale Straße und dazu noch einen
       Fußgängerüberweg, den ständig Kinder überqueren wollten, die den Verkehr
       mit ihrer Zufußgeherei aufhielten.
       
       Am gefährlichsten, wurde mir klar, wird es für mein Kind direkt vor der
       Schule werden. In Osnabrück haben sie im vorigen Jahr gegen dieses Problem
       an einigen Schulen „Bannmeilen“ eingeführt. Eltern dürfen nicht mehr direkt
       vor diesen Schulen halten. Sie tun es natürlich doch. Keine Macht dieser
       Welt kann Eltern stoppen, wenn es darum geht, IHR KIND irgendwo
       hinzubringen.
       
       Sei es an die weiterführende Schule ihrer Wahl (und sei sie noch so weit
       vom Wohnort entfernt, was das Zur-Schule-Bringen vielleicht erst nötig
       macht), oder täglich direkt vor die Grundschuleingangstür. „Da steht
       morgens alles voller SUVs“, sagte mir letztlich eine Freundin, deren Kinder
       auf eine Schule in Othmarschen gehen. Ihr Sohn radelt munter mit dem
       Fahrrad durch die SUVs hindurch. Die Verkehrswacht und der
       Landeselternbeirat Schleswig-Holstein fordern nun ganz aktuell, zu
       Schulbeginn, die Eltern auf, das „Elterntaxi“ einzustellen. Ein frommer
       Wunsch.
       
       Für viele Eltern ist es einfach praktisch in vielerlei Hinsicht, das Kind
       mit dem Auto zu bringen. Das Kind kommt pünktlich. Das Kind kommt sicher.
       Ein allein mit seinen eigenen Beinen gehendes Kind kann entführt werden,
       überfahren, es kann sich verspäten, im Regen nass werden, kalt werden, es
       kann sich im Kiosk bei den Süßigkeiten verzetteln.
       
       All das ist mir als Kind geschehen. Nun gut, ich bin nicht überfahren
       worden und auch nicht entführt. Einmal vertrödelte ich so viel Zeit in
       einem Laden, dass ich den Bus vom Schulhort nach Hause verpasste. Es war
       bereits dunkel, und es lag hoch Schnee. Wir hatten kein Telefon und sowieso
       kein Auto. Ich musste laufen. Fünf Kilometer durch den dunklen Wald. Ich
       war acht oder neun Jahre alt, und ich weiß noch, was ich dachte, weil ich
       nicht heulen wollte, ich dachte: Na und! Ich trat mit meinem Stiefel gegen
       jeden Schneeklumpen und dachte: Na und! Na und! Bis ich zu Hause war. Auf
       diese Weise, liebe Eltern, wird man groß.
       
       Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen
       Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ erschien
       kürzlich bei Rowohlt in Berlin.
       
       29 Aug 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Seddig
       
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