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       # taz.de -- Hinterbliebene der NSU-Opfer: Angst vor dem Schlussstrich
       
       > Die Familien der Opfer sehnen schon lange das Ende des NSU-Prozesses
       > herbei. Sie sind bereits jetzt von den Ermittlungen enttäuscht.
       
   IMG Bild: Gedenken an die Opfer des NSU
       
       München taz | Fast fünf Stunden hat Yvonne Boulgarides am Mittwoch den
       Worten von Oberstaatsanwältin Anette Greger im Saal A101 des Münchner
       Oberlandesgerichts gelauscht, als es plötzlich um Theo geht. Greger
       schildert, wie akribisch das NSU-Trio seine Tatorte auskundschaftete, wie
       es Stadtpläne markierte und Notizen vermerkte. Einen Stern zeichneten die
       Terroristen auch auf die Trappentreustraße in München. Dort, wo Theo starb.
       Ihr Theo.
       
       In diesem Fall, sagt Greger, hätten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos auch
       einen Zettel für Beate Zschäpe vorbereitet: mit einer Handynummer und dem
       Vermerk „Aktion“. Tatsächlich erfolgte am 15. Juni 2005, vier Stunden vor
       der „Aktion“, ein Anruf an diese Nummer. Er kam aus einer Telefonzelle in
       der Zwickauer Polenzstraße. Dort hatte der NSU seinen Unterschlupf. Die
       Anruferin müsse Beate Zschäpe gewesen sein, sagt Greger. Und diese habe
       genau gewusst, wofür das Codewort „Aktion“ stand. Für Mord.
       
       Yvonne Boulgarides verfolgt jedes Wort Gregers. Sie sitzt zwischen der
       Riege der Opferanwälte, zweite Reihe, in grauer Strickjacke, die langen
       braunen Haare offen. Auch ihre Tochter ist gekommen. Beide haben sich nach
       vorn gebeugt, um nichts zu verpassen. Und es wühlt alles wieder auf in
       ihnen.
       
       Denn am 15. Juni 2005 betraten Mundlos und Böhnhardt in der
       Trappentreustraße schließlich den Schlüsseldienstladen ihres gerade
       geschiedenen Mannes, Theodoros Boulgarides. Erst zwei Wochen zuvor hatte er
       das Geschäft eröffnet. Unvermittelt schießen die Terroristen dem
       41-Jährigen in den Kopf, drei Mal. Der NSU wird Boulgarides später in
       seinem Bekennervideo verhöhnen.
       
       ## 60 Anwälte der Nebenkläger
       
       In dieser Woche hat die Bundesanwaltschaft um Anette Greger im NSU-Prozess
       die Plädoyers eröffnet. Nach 375 Prozesstagen, 815 angehörten Zeugen, mehr
       als vier Jahren Verhandlung. Es ist eine Zäsur in einem historischen
       Prozess. Auch für die Opferangehörigen.
       
       Zehn Menschen hat der „Nationalsozialistische Untergrund“ erschossen, von
       2000 bis 2007. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil
       Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık,
       Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter. Dazu kommt ein Anschlag mit einer
       Nagelbombe in der Kölner Keupstraße, die 23 Menschen verletzte. Und eine
       zweite Bombe in Köln, die einer 19-jährige Deutschiranerin das Gesicht
       zerfetzte.
       
       Im NSU-Prozess nehmen die Familien all dieser Opfer als Nebenkläger teil,
       vertreten durch 60 Anwälte. Für den September haben auch sie ihre Plädoyers
       angekündigt: Etwa 60 Stunden sollen sie dauern. Yvonne Boulgarides ist
       schon jetzt gekommen, um selbst zu hören, was die Ankläger Zschäpe am Ende
       vorwerfen.
       
       Und die verkünden: Zschäpe war gleichwertiges Mitglied des NSU. Sie
       gaukelte Nachbarn einen harmlosen Alltag vor, sie beschaffte Tarndokumente,
       sie mietete Wohnungen an, sie verwaltete das Geld, sie verschickte die
       Bekenner-DVDs. Und sie wusste von den Morden, wie etwa der Anruf vor dem
       Mord an Theodoros Boulgarides zeige. Damit, so die Bundesanwaltschaft, sei
       Zschäpe – auch wenn sie an keinem Tatort gesehen wurde – voll mitschuldig
       am NSU-Terror.
       
       Keine anderen Worte hatte Yvonne Boulgarides erhofft. Auch wenn der Besuch
       im Gerichtssaal schmerzt. Weil der Mord an Theo wieder ganz präsent wird.
       Die Bundesanwaltschaft wird am Folgetag noch mehr ins Detail gehen. Dann
       wird Greger schildern, wie die NSU-Mörder ihren Opfern aus kürzester
       Distanz ins Gesicht schossen. Wie die Sterbenden an ihrem Blut erstickten.
       Wie sich in Köln zehn Zentimeter lange Zimmermannsnägel in die Körper der
       Opfer bohrten. Wie Gesichtshaut verbrannte, Augenhöhlen einbrachen,
       Trommelfelle platzten. Ganz still ist es im Saal A101, als die Grausamkeit,
       mit der der NSU zuschlug, noch einmal greifbar wird.
       
       ## Endlich
       
       Yvonne Boulgarides hat auch tags zuvor schon Tränen in den Augen, als sie
       über das gerade Gehörte spricht. „Es ist gut, dass ein Ende in Sicht ist“,
       sagt sie. Und nicht nur sie. Auch Adile Şimşek, die Witwe des ersten
       NSU-Mordopfes Enver Şimşek, hat genug. Sie war bereits in der Vorwoche zum
       Prozess angereist, als die Plädoyers ursprünglich starten sollten. „Frau
       Şimşek möchte mit dem Prozess abschließen, sie erwartet keine Aufklärung
       mehr von dort“, sagt ihre Anwältin Seda Basay.
       
       Barbara John hört das auch von anderen Angehörigen. Sie ist die Ombudsfrau
       der Bundesregierung für die NSU-Opferfamilien. „Endlich“, sagt John, dieses
       Wort höre sie dieser Tage oft. „Endlich wurde Zschäpe klar und eindeutig
       als Mittäterin genannt. Endlich ist Schluss mit der mutmaßlichen
       Täterschaft.“
       
       Yvonne Boulgarides sitzt am Mittwoch nur wenige Meter entfernt von Zschäpe,
       die regungslos das Plädoyer an sich vorbeiziehen lässt. Boulgarides würdigt
       sie kaum eines Blickes. „Zschäpe vermittelt bis heute den Eindruck, es war
       nicht schlimm, was sie gemacht hat“, sagt sie. „Ich glaube, sie braucht
       noch viel Zeit, um nachzudenken. Die soll sie bekommen.“
       
       Boulgarides hofft auf die Höchststrafe: lebenslänglich, mit besonderer
       Schwere der Schuld. „Ein Urteil unter der Höchststrafe können sich die
       Hinterbliebenen nicht vorstellen“, sagt auch Barbara John.Und gleichzeitig
       ist da schon jetzt: große Enttäuschung. Denn die drängendste Frage der
       Familien konnte auch der Prozess nicht beantworten: Warum starb gerade
       unser Vater, Bruder, die Tochter? Warum starb Theo Boulgarides? Warum Enver
       Şimşek?
       
       ## Angst vor den Helfern
       
       Anklägerin Anette Greger wendet sich dazu direkt an Beate Zschäpe: Es sei
       eine vertane historische Chance, dass sie nicht die Fragen der Opfer
       beantwortet habe. Die Bundesanwaltschaft meint dennoch Antworten gefunden
       zu haben. „Willkürlich“ seien die Opfer ausgewählt worden, heißt es in
       ihrem Plädoyer. Nur aufgrund ihrer ausländischen Herkunft, und fast immer
       erst kurz vor der Tat. Reine Zufallsopfer.
       
       Adile Şimşek glaubt nicht daran. Woher hätten die Mörder gewusst, dass ihr
       Mann seinen mobilen Blumenstand damals gerade an dieser Nürnberger
       Ausfallstraße aufbauen würde? „Dort fährt man nicht zufällig vorbei“, sagt
       Anwältin Basay. „Wir glauben, dass es örtliche Hinweisgeber gegeben haben
       muss. Aber über die weiß man nichts.“ Wiederholt war Adile Şimşek in
       psychiatrischer Betreuung. Vor der Enttarnung des NSU hatte sie Angst,
       jemand könne auch ihren beiden Kinder nach dem Leben trachten. Nun hat
       Şimşek Angst, dass da draußen noch Helfer der Terroristen herumlaufen.
       
       Es war Kanzlerin Angela Merkel, die bei einem Gedenken an die NSU-Opfer
       2012 in Berlin versprach, „alles zu tun, um die Morde aufzuklären und die
       Helfershelfer aufzudecken“. Yvonne Boulgarides war gar nicht erst nach
       Berlin angereist. Sie hatte sich geärgert. Sie war als Schwester des Toten
       eingeladen worden. Ein nachlässiger Lapsus, und das nach all den Jahren der
       Verletzungen. Heute ärgert sich Boulgarides, dass auch sie nicht weiß, wie
       ihr früherer Mann zum Mordopfer wurde. „Ich habe über die Jahre gelernt,
       dass es von ganz oben keinen Willen gibt, das aufzuklären“, sagt sie. „Mein
       Vertrauen in den Staat ist weg, ganz weg.“
       
       Als der Prozesstag am Mittwoch vorbei ist, begegnet Yvonne Boulgarides auf
       dem Gerichtsflur Bundesanwalt Herbert Diemer. Er gibt ihr die Hand, nickt
       ihr freundlich zu. Boulgarides nickt zurück. Es fallen keine Worte.
       
       Seit fast 30 Jahren arbeitet Diemer für die Bundesanwaltschaft. Er gilt als
       Architekt der Anklage gegen Zschäpe. Der NSU-Terror sei „infam“ und
       „widerwärtig“, sagt er. Diemer sagt aber auch: Es gebe keine weiteren
       NSU-Mittäter. Die hätte man sonst längst ermittelt. Später legt seine
       Kollegin Greger nach. Nirgends, auch in den Untersuchungsausschüssen nicht,
       habe sich Existenz von rechten Hintermännern, „die einige Rechtsanwälten
       ihren Mandanten offensichtlich versprochen hatten“, bewahrheitet.
       
       Die Opferanwälte reagieren wütend. „Frechheit“, schimpft einer. Sehr wohl
       hätten der Prozess und die Ausschüsse Hinweise auf Helfer des NSU ergeben.
       Es sei dagegen die Bundesanwaltschaft, die es nicht vermag, diese zu
       ermitteln.
       
       Für einige Familien steht Diemers Behörde schon länger auf der anderen
       Seite. Immer wieder gerieten ihre Anwälte im Prozess mit den Anklägern
       aneinander. Weil sie Akten nicht einsehen durften oder weil ihre Anträge zu
       V-Leuten oder Neonazi-Kadern abgelehnt wurden. Man dürfe den Prozess nicht
       ausufern lassen, mahnte Diemer. Die Anwälte sagen: „Das
       Aufklärungsversprechen ist gebrochen.“
       
       ## Klage gegen die Bundesrepublik
       
       Ende April erst trafen sich einige die Opferfamilien in Heilbronn. Dort, wo
       vor zehn Jahren das letzte NSU-Opfer starb: die Polizistin Michèle
       Kiesewetter. Auch sie benennt die Bundesanwaltschaft im Plädoyer als
       Zufallsopfer, ausgewählt als Repräsentantin des verhassten Staates. Schon
       zuvor reisten die Familien an die anderen Tatorte. Die Idee kam von Barbara
       John: Die so lange isolierten, selbst unter Verdacht stehenden Familien
       sollten zurück in eine Gemeinschaft.
       
       Doch nun bricht in den Treffen auch Frust auf. Warum wird nicht intensiver
       nach Helfern der Terroristen gesucht? Warum wird in Hessen eine NSU-Akte
       des Verfassungsschutzes für 120 Jahre geheimgehalten? Wusste das Amt, trotz
       all seiner V-Leute, wirklich nichts? Hätte der Staat den Terror nicht doch
       verhindern können?
       
       Inzwischen verklagen zwei Familien die Bundesrepublik: die von Adile Şimşek
       und die von İsmail Yaşar, dem anderen Nürnberger NSU-Mordopfer. Sie
       verlangen vom Staat Schadensersatz, für die Pannen bei der Fahndung nach
       den NSU-Terroristen. 50.000 Euro für jedes Familienmitglied.
       
       Die Klage ist auch ein weiterer Versuch der Familien noch an Antworten zu
       kommen. Viele Versuche bleiben nicht mehr. Der Prozess in München nähert
       sich dem Ende, die meisten Untersuchungsausschüsse haben die Arbeit
       eingestellt. „Es gibt die Befürchtung vor einem Schlussstrich, und sie ist
       nicht unbegründet“, sagt Barbara John. „Schon jetzt hören die Familien oft,
       das seien schlimme Verbrechen gewesen, aber nun sollte auch mal Schluss
       sein.“
       
       Als sich die Familien im letzten Winter in Kassel trafen, am Ort des Mordes
       an Halit Yozgat, hielt dessen Vater eine kleine Rede. „Wir glauben an
       Gerechtigkeit“, sagte İsmail Yozgat. „Wir verlieren nie die Hoffnung.“
       Halit Yozgat wurde 2006 in seinem Internetcafé erschossen. Vor Ort war auch
       der Verfassungsschützer Andreas Temme. Warum, ist bis heute ungeklärt.
       
       Temme habe mit dem Mord nichts zu tun gehabt, das habe der NSU-Prozess
       ergeben, sagt Oberstaatsanwältin Greger in München. İsmail Yozgat glaubt
       das nicht. Er hatte damals eine Forderung gestellt: Der Prozess müsse eine
       Ortsbegehung in Kassel abhalten. Dann werde man sehen, dass Temmes Aussage
       nicht stimmen könne, er habe vom Mord nichts mitbekommen. Komme der
       NSU-Prozess aber nicht nach Kassel, sagte Yozgat, dann könne seine Familie
       das Urteil nicht akzeptieren.
       
       Der NSU-Prozess kam nicht nach Kassel.
       
       28 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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