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       # taz.de -- Ein Selbstversuch zu barrierefreier Kunst: Ein Schloss voller Kunst, wo Baselitz lebte
       
       > Im niedersächsischen Derneburg gibt es ein Schloss, in dem man Kunst
       > besichtigen kann. Wie gut ist das neu umgebaute Haus auf Besucher im
       > Rollstuhl eingerichtet?
       
   IMG Bild: Wird schwierig mit einem Rollstuhl: Ausstellung in Schloss Derneburg
       
       „Das Schloss ist Rollstuhl gerecht.“ So steht es in der etwas streng
       daherkommenden Besucherordnung, in der auch der Hinweis nicht fehlt, dass,
       wer sich unangemessen verhält, des Hauses verwiesen werden kann, nein:
       gebeten wird, das Schloss zu verlassen.
       
       Wir sind in Derneburg. Das Schloss genannte, zugleich romantisch und
       trutzig anmutende Gebäude war von der Mitte des 12. bis zum Beginn des 19.
       Jahrhunderts ein Kloster mit wechselvoller Geschichte. Dann wurde es zum
       Wohnsitz der Grafen zu Münster. Die ganze Anlage wurde geöffnet, der
       Kreuzgang wurde zu einem Drittel abgerissen, die Kirche verschwand, ein
       Landschaftsgarten wurde angelegt. 1974 kaufte es der Maler Georg Baselitz
       und lebte dort, arbeitend und Kunst sammelnd, 32 Jahre lang.
       
       Heute ist es zu einer Schatzkammer für moderne Kunst geworden, die seit
       knapp einem Monat wieder zur Besichtigung freigegeben ist. Gekauft mit
       seinen 9.000 Quadratmetern Grundfläche, mit Domäne und allem Zubehör hat es
       Andrew Hall. Es gehört jetzt zur Stiftung Hall Art Foundation, die im
       Besitz von über 5.000 Kunstwerken ist, von denen die meisten wiederum
       Andrew und Christine Hall gehören.
       
       Ein lackglänzendes – oder sollte es doch ölglänzend sein? – Porträt Andrew
       Halls von Julian Schnabel empfängt die Besucher dann auch gleich beim
       Betreten des Schlosses. Andrew Hall, Multimillionär durch Rohstoffhandel,
       hat sein – wie ihm bisweilen nachgesagt wird: gezocktes – Geld gut
       angelegt.
       
       Das Haus ist eine überwältigende, repräsentative Herberge geworden für
       alles, was heute in der Kunst einen Rang hat: von Ansel Adams über Joseph
       Beuys, Jörg Immendorff, Norbert Bisky, Olafur Eliasson, Maria Lassnig,
       Candida Höfer, Anselm Kiefer bis zu Debora Warner. Werke von mehr als 300
       Künstlern befinden sich in der Sammlung. Nun sind sie in diesem privaten
       Museum zur allgemeinen Bildung nicht ganz billig freigegeben.
       
       Da darf von den Besuchern etwas erwartet werden. Vor allem „ehrliches
       Kunstinteresse“. Und zwar ohne Zuspätkommen! Und keine „Haustiere, Essen
       oder Trinken“, gar nicht zu reden von „spitzen Gegenständen“ oder
       „selfie-sticks“. Kein „unangemessenes Benehmen“ dürfte wohl
       Grundvoraussetzung sein.
       
       Wir entscheiden uns für die kurze Tour, die dauert eineinhalb Stunden. Die
       umfassende Tour dehnt sich auf fünf Stunden aus, da ist dann allerdings für
       die 75 Euro auch noch ein Essen mit drin. Wir machen alles richtig.
       Besichtigungen können nur im Voraus über eine Event-Agentur in New York
       gebucht werden, und zum Glück rücken wir auf der Warteliste bald vor. Die
       Karten sind uns sicher. Wie gewünscht geben wir an, mit einem Rollstuhl
       dabei zu sein. Vonseiten des Office Administrators wird der Hinweis mit
       Dank vermerkt: Das sei wichtig zu wissen, „damit wir entsprechende
       Vorkehrungen treffen können“.
       
       Vorkehrungen? Vorfinden können wir die nicht und uns an vielen Stellen auch
       nicht vorstellen, wie die aussehen könnten. Also: An der Sache mit der
       Rollstuhlgerechtigkeit muss vonseiten der Foundation aus noch geübt werden.
       Die ersten zwei Stufen geht es gleich nach dem Blick auf Schnabels Bild
       hinunter. Beherzte Mitbesichtiger packen mit an. Aber so kann das ja nicht
       gedacht sein, dass feinsinnig kunstinteressierte Besucher zu
       Dienstleistenden werden.
       
       Und weil das nicht so weitergehen kann, wird höheren Ortes um Beistand
       gebeten. Eva-Sabine Hänsel, Managing Director, eilt herbei und mit ihr Jörg
       Meier, der von nun an den Rolli über Stufen und Türschwellen hebt, über
       schräge, holprige Wege und abfallende Rasenflächen schiebt, auf denen der
       E-Antrieb nichts nützt. Meier kennt sich im Schloss aus, selbst im Dunkeln.
       
       Die Direktorin kommt auf den Satz in der Besucherordnung, dass „ein großes
       Maß an Gehen und Stehen“ erforderlich sei, dass es allerorten Treppen,
       Türschwellen, Absätze gebe. Wir verweisen auf die ausdrücklich angegebene
       Rollstuhlgerechtigkeit. Das sei auch so. Wie jetzt? Na, dann würden Rampen
       und Schienen angelegt. Wie viele das sein müssten allein bei der kurzen
       Tour mögen wir uns gar nicht vorstellen. Ob das dem Perfektionismus, der
       den Halls nachgesagt wird, entspricht?
       
       Sieben Ausstellungen sind zeitgleich und voraussichtlich für ein Jahr zu
       sehen. Das Schlossmuseum hat zahlreiche Räume jeder Größe und Höhe und
       jeden Zuschnitts, vom Keller bis zum Dachboden. Es sind Einzelausstellungen
       mit Werken von Antony Gormley, von Barry Le Va, Zeichner, Grafiker,
       Bildhauer aus New York, vom ebenfalls dort lebenden Malcolm Morley mit
       seiner sozialkritischen Malerei, von Hermann Nitsch, dem österreichischen
       Maler, einem der bekanntesten Vertreter des Wiener Aktionismus, von Julian
       Schnabel, dem amerikanischen Maler und Filmregisseur, Protagonisten des
       Neoexpressionismus.
       
       Hinzu kommen die beiden Gruppenausstellungen „Barbara“ mit Bildern,
       Skulpturen, Foto- und Papier-Arbeiten von Künstlerinnen „im Gedenken an die
       kürzlich verstorbene Berliner Galeristin Barbara Weiss, die lebenslang eine
       Fürsprecherin für Frauen in der Kunst war“ und „Die Tatsache des
       Ungewissen. Werke mit bewegten Bildern aus der Sammlung Hall“.
       
       Überraschend beschränkt sich die kurze Führung auf das Werk des englischen
       Bildhauers Antony Gormley. Das hatten wir uns unter „einige Highlights“
       nicht vorgestellt. Dass Gormley eine beeindruckende Wirkung hat, ist
       unumstritten, und hier wird es in Reinform ersichtlich. Da treten den
       BesucherInnen gleich massig 22 dunkle Figuren aus Cortenstahl entgegen. Im
       ehemaligen Kreuzgang hintereinander aufgereiht, dehnen sie sich in diesem
       „Expansion Field“ von Figur zu Figur in die Höhe und Breite.
       
       Und Körper immer wieder, wobei Gormley gewöhnlich Maß an sich selbst nimmt:
       als Holzdrucke oder Gitterkonstruktionen oder als Eisenquader – und noch in
       allen rechten Winkeln und Blöcken werden sie lesbar als Mensch in emotional
       fingierter Haltung.
       
       Zwei Räume sind wie vorgegeben für Gormleys Arbeiten: „Sleeping Field“ und
       „European Field“. Die erste Installation ist aufgebaut in Baselitz’
       ehemaligem Winteratelier, einer Halle ohne Kunstlicht. Da liegen in
       unterschiedlichen Posen, verteilt auf dem Boden, 700 Figuren, keine an die
       andere (im Wortsinne) aneckend und doch verdichtet, die sich, je entfernter
       sie sind, auch als kleine Stadt aus Bauklötzen deuten lassen.
       
       „European Field“ befindet sich in einer renovierten Scheune. Der Eindruck
       ist verblüffend: Als drängte eine nur kurz verharrende Masse unzähliger
       kleiner Individuen zur Tür, durch die die BesucherInnen in den Raum
       hineinsehen. Es sind 35.000 Figuren aus småländischem Ton, geformt in
       Kleinarbeit von Menschen jeden Alters in mehr als einer Woche (sagt Herr
       Meier), aufgestellt von Studierenden aus Braunschweig. Nun stehen sie da,
       Blickrichtung zum Betrachter, höchst erwartungsvoll.
       
       Schlusspunkt: Im ehemaligen Schafstall können sich die TeilnehmerInnen
       mitten hinein in ein Kunstwerk begeben, es ist Anthony McCalls „Between You
       an I“, eine Skulptur aus weißem Licht, die erst durch einen Vernebeler ihre
       Plastizität erhält und wie aus spinnwebfeinem Stoff hingehaucht wirkt.
       
       Mehr davon, auch gerne von der vielfältigen Ausstellung „Für Barbara“, wäre
       für die kurze Tour sinnvoller gewesen als die kompakte Konzentration auf
       den gewiss spannungsreichen Gormley. Und so schnell Herr Meier auch war, um
       über Umwege den Anschluss an die Gruppe zu halten: Wer im Rollstuhl sitzt
       und vor immer neuen Treppen steht, fällt einfach zurück.
       
       Die Umwege aber, die er nahm und nehmen musste, führten im Eiltempo an
       anderen Kunstwerken vorbei, durch Privat- und Büroräume mit noch mehr Kunst
       – eine Art Entschädigung für Entgangenes. Wenn Herr Meier nicht gewesen
       wäre, wären uns 30 Euro für eine noch einmal verkürzte kurze Besichtigung
       doch reichlich viel vorgekommen. Ach ja, und das WC ist tatsächlich
       behindertengerecht
       
       Wer nach all der Kunst im Schloss ins Offene strebt, hat dazu eine
       besondere Gelegenheit. Durch den Wald führt der Laves-Kulturpfad zu einem
       Teehaus oder Tempel und zu einem Pyramiden-Mausoleum des hannoverschen
       Architekten Georg Ludwig Friedrich Laves, entstanden in der ersten Hälfte
       des 19. Jahrhunderts. Weitere alte Gebäude, Fischerhäuser, eine Mühle und
       ein Waschhaus liegen am Wegrand am Teich, und im „Glashaus“, früher ein
       Gewächshaus, wird es dann auch Zeit für die Pause.
       
       Die Hall Art Foundation in Schloss Derneburg ist in geführten Gruppen bis
       Dezember 2017 zugänglich. Anmeldung:
       [1][http://www.hallartfoundation.org/de/location/schloss-derneburg/book-a-t
       our]
       
       19 Sep 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.hallartfoundation.org/de/location/schloss-derneburg/book-a-tour
       
       ## AUTOREN
       
   DIR claudia toll
       
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