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       # taz.de -- Abschiebung von „Gefährdern“: „Das Verfahren ist zu kurz“
       
       > Bremens Innensenator will einen 18-jährigen Gefährder abschieben.
       > Anwältin Christine Graebsch hat dagegen den Europäischen Gerichtshof für
       > Menschenrechte angerufen.
       
   IMG Bild: Stempel drauf: Wie schnell eine Abschiebung eines Gefährders durchgezogen werden kann, darüber herrscht Uneinigkeit.
       
       taz: Frau Graebsch, der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) findet
       frustrierend, dass es so lange dauert, Gefährder in die Länder, deren Pass
       sie haben, abzuschieben. Sind Sie schuld an seinem Frust? 
       
       Christine Graebsch: Nein, schuld daran ist, dass dieses beschleunigte
       Verfahren nach Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes, das die Innenbehörde
       anwendet, schon viel zu beschleunigt ist: Da wird in einem einzigen Schritt
       entschieden, ob jemand Gefährder ist und ob Abschiebehindernisse bestehen.
       Das heißt: Eine Instanz ohne persönliche Anhörung ersetzt eine ganze Reihe
       Verfahren, die alle regulär durch mehrere Instanzen geführt werden können.
       
       Mäurer findet trotzdem, es gäbe zu viele Instanzen … 
       
       Eins weniger eins ist null. Noch weiter verknappen kann man es nur, wenn
       man sagt: Die Leute sollen überhaupt keine Rechte haben. Das scheint Herr
       Mäurer anzustreben. Das ist aber mit dem grundlegenden Gedanken der
       Menschenrechte nicht vereinbar. Offensichtlich findet der Europäische
       Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auch, dass man sich die Sache
       wenigstens noch einmal genauer angucken muss. Das Verfahren ist zu kurz, um
       genau zu sein. Das führt zu Verzögerungen. Im Übrigen haben wir ja sogar in
       der Haftsache vor Gericht einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot
       geltend gemacht, weil sich das Migrationsamt und der Senator für Inneres
       nicht früh genug um die Dinge bemüht haben, die sie hätten tun können, und
       ohne die das Verfahren nicht vorankommt.
       
       Bloß, was ist in dem Fall so schwierig zu klären? Ihr Mandat scheint sich
       ja wirklich in terroristische Zusammenhänge hineinbewegt zu haben … 
       
       Nein, das ist so nicht richtig. Mein Mandant hat nichts getan, er ist nie
       strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er hat sich nur im virtuellen Raum
       entsprechend geäußert. Selbst das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) sagt,
       dass durchaus eine andere Deutung dieser Äußerungen möglich ist. Er könnte
       sich aufgrund von jugendtypischem Geltungsbedürfnis bereit erklärt haben,
       irgendeinen Anschlag zu begehen.
       
       Was denn für einen? 
       
       Nicht einmal das ist, anders als verschiedentlich kolportiert,
       konkretisiert worden. Es kann also auch sein, dass es nur darum ging, sich
       wichtig zu machen – und dass er im Ernstfall einen Rückzieher machen würde.
       Das Bundesverwaltungsgericht hält diese Deutung für möglich, aber für
       mindestens genauso wahrscheinlich, dass er es ernst meint. Die Entscheidung
       beruht auf einer reinen Prognose der Polizei.
       
       Die hat aber das BVerwG überzeugt? 
       
       Das [1][hält für seine Einschätzung] ja sogar spezielle Prognoseverfahren
       für verzichtbar: Die Richter treffen diese Entscheidung, ohne jemals mit
       meinem Mandanten persönlich gesprochen zu haben. Es wird praktisch alles
       auf Grundlage von Polizeiangaben entschieden. Im normalen Strafverfahren
       haben wir Ermittlungen, eine Anklage, und dann entscheidet das Gericht, ob
       zutrifft, was vorgeworfen wird. Hier wird allein auf Grundlage des Vorwurfs
       die Entscheidung getroffen über die Abschiebung.
       
       Dass in deren Zielland, der Russischen Föderation, dem jungen Mann
       entwürdigende und menschenrechtswidrige Behandlung drohen, hält das BVerwG
       für unwahrscheinlich und das Bundesverfassungsgericht [2][findet die
       Einschätzung okay]? 
       
       Ja, und das ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar. Denn
       selbstverständlich droht unserem Mandanten in Dagestan die Verhaftung: Er
       gilt ja als islamistischer Gefährder, er ist leicht durch die
       Berichterstattung in deutschen Medien zu identifizieren. Und es ist
       allgemein bekannt und gut dokumentiert, dass die russische Polizei
       Menschen, die als islamistische Gefährder gelten, in Gewahrsam systematisch
       verhört und foltert. Die andere Möglichkeit wäre, dass ihm als
       Wehrpflichtigem im Militärdienst menschenrechtswidrige Behandlung droht.
       
       Das BVerwG glaubt aber, er würde gar nicht eingezogen? 
       
       Das geht davon aus, dass er als islamistischer Gefährder nicht eingezogen
       würde – aber es hält für unwahrscheinlich, dass die Behörden ihn als einen
       islamistischen Gefährder befragen. Da ist die Begründung in sich sehr
       widersprüchlich.
       
       Widersprüchlich wirkt ja auch, dass die Bremer Behörden Ihren Mandanten vor
       drei Jahren daran gehindert haben, auszureisen, weil man vermutete, er
       würde sich den IS-Kämpfern anschließen. Wollte er das denn?
       
       Das weiß ich nicht: Auch damals war der Verdacht so konkret, wie er jetzt
       ist – nämlich nicht konkret. Das sagen ja auch alle: Selbst das BVerwG
       stellt fest, dass keine konkrete Gefahr vorliegen muss. Es genügt ein
       beachtliches Risiko dafür, dass sich irgendwann in der Zukunft eine Gefahr
       realisieren kann. Das ist der Maßstab.
       
       Ist denn eine Abschiebung von jemandem, der hier, von unserer Gesellschaft
       – möglicherweise – zu Gewaltbereitschaft sozialisiert wurde, sinnvoll? 
       
       Wenn man ihn für gewaltbereit hält, wäre das absolut kontraproduktiv: Er
       würde an einen Ort gebracht, an dem er komplett entwurzelt ist – und wo die
       Einzigen, die eventuell zu seiner Integration zur Verfügung stünden,
       tatsächlich [3][die vom islamischen Staat sind]. Was dann passiert, kann
       man sich ohne Prognoseverfahren ausmalen.
       
       Nur Uli Mäurer fehlt dafür die Fantasie? 
       
       Nein, dem ist das egal. Das hat er ja auch schon mehrfach gesagt. Es ist
       dann auch egal, ob er von der Russischen Föderation aus weiterreisen würde
       und woanders Anschläge beginge. Das interessiert dann nicht. Offenbar
       interessiert noch nicht einmal die Frage, ob er möglicherweise dann
       zurückkehrt nach Deutschland: Das könnte ja auch passieren. Im Grunde sorgt
       man mit der Abschiebung dafür, dass das, was man befürchtet, auch wirklich
       eintreten kann.
       
       Also soll die Maßnahme vor allem Handlungsfähigkeit symbolisieren? 
       
       Symbolisieren ist das richtige Wort.
       
       Und an Ihrem Mandanten würde ein Exempel statuiert? 
       
       Ja, klar. Auch das hat Mäurer schon mehrfach gesagt: Unser Fall soll als
       Modell dienen. Nur war er dann offenkundig völlig überrascht, dass es so
       etwas wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt und sich
       sein Modellfall auch noch dorthin wendet.
       
       15 Aug 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.bverwg.de/entscheidungen/entscheidung.php?ent=130717B1VR3.17.0
   DIR [2] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/07/rk20170726_2bvr160617.html
   DIR [3] http://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram%3Aarticle_id=389824
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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